Das »Onomastikon medicinae« des Otto Brunfels

Michael Stolberg

Dem medizin- oder wissenschaftsgeschichtlich interessierten Leser wird man Otto Brunfels kaum eigens vorstellen müssen. Gilt er doch zusammen mit Hieronymus Bock und Leonhard Fuchs als Begründer der neuzeitlichen botanischen Wissenschaft. Seine dreibändigen »Herbarum vivum eicones« deren erster Band 1530 erschien, und das teilweise mit neuem Bildmaterial versehene »Contrafayt Wörterbuch« aus dem Jahr 1532 revolutionierten die botanische Ikonographie mit ihren überaus realitätsgetreuen Darstellungen, die selbst noch abgebrochene Blattstengel und Insektenfraß erkennen lassen und die der Dürerschüler Hans Weiditz gezeichnet hatte.1

Weniger bekannt ist dagegen die Breite der geistigen Interessen Brunfels' und das beachtliche Spektrum anderer, nicht-botanischer Themen, denen er sich in seinen Veröffentlichungen zuwandte. Einen wichtigen Platz nahmen darin insbesondere seine ausgeprägten philologischen Interessen ein, denen sich auch das vorliegende medizinische Wörterbuch wesentlich verdankt. Brunfels erweist sich auch damit als ein herausragender Vertreter jener humanistischen Bewegung, die gerade im deutschsprachigen Raum Anfang des 16. Jahrhunderts rasch an Einfluß gewann und sich höchst wirkungsmächtig mit dem Gedankengut der Reformation verband, die sie über den Einfluß auf Luther, Bucer und andere teilweise überhaupt erst ermöglicht hatte.

Brunfels' Biographie weist in dieser Hinsicht manche typische Merkmale eines Intellektuellenlebens in jener Zeit des Umbruchs auf. Um 1489 in Mainz geboren, trat er nach einem Studium der »Artes liberales« in Mainz in das Karthäuserkloster in Straßburg ein und lebte dort mehr als zehn Jahre lang. Mit der Unterstützung Ulrich von Huttens floh er jedoch 1521 aus dem Kloster und schloß sich der reformatorischen Bewegung an, die in Straßburg frühzeitig auf große Resonanz gestoßen war. Er wirkte für einige Jahre als Prediger an kleineren Orten und eröffnete schließlich in Straßburg eine Schule. Dort traten neben Theologie und Pädagogik, denen er an die 30 Schriften widmete, bald auch Naturkunde und Medizin in den Mittelpunkt seiner intellektuellen Aktivitäten. Nach einigen Jahren in Straßburg ging er nach Basel, erwarb dort 1532 den medizinischen Doktorgrad und wurde 1533 Stadtarzt von Bern, wo er allerdings dann schon im folgenden Jahr verstarb.

Brunfels’ Arbeiten zeigen besonders anschaulich, wie das humanistische Credo »ad fontes!« für naturkundliche interessierte Humanisten eine doppelte Bedeutung gewann. Auf der einen Seite stand das Bemühen um eine möglichst wort- und buchstabengetreue Rekonstruktion der maßgeblichen Schriften der Autoritäten, insbesondere die der griechischen und römischen Schriftsteller, die es in ihrer ursprünglichen Form von zwischenzeitlichen Verfälschungen zu befreien galt.

Brunfels gab unter anderem Dioskurides und Serapion heraus und übersetzte Texte von Galen, Paulus von Aegina, aber auch des mittelalterlichen italienischen Arztes Lanfranchi. Besonders heftige Kritik richtete er wie viele seiner humanistischen Gesinnungsgenossen gegen die sprachliche »Barbarei« der arabischen Naturgelehrten und Ärzte, deren Werke die geistige Entwicklung der vorangehenden Jahrhunderte maßgeblich bestimmt hatten. Den angehenden Ärzten empfahl er die Lektüre der klassischen griechischen Autoritäten in der Originalsprache. Doch er war auch zur Differenzierung bereit. Er zweifle nicht, so betonte er ausdrücklich, daß Avicenna und Mesue ebenfalls höchst gelehrte Männer waren. Ihre Werke wären durchaus schätzenswert, sollte das heißen, wenn sie nur in unverdorbener Form vorlägen und in ihrer ursprünglichen Sprache gelesen würden.2

Neben den Büchern der Alten gewann andererseits für Männer vom Schlage Brunfels’ eine zweite »Quelle« zentrale Bedeutung: das »Buch der Natur«, mit dessen Hilfe man ebenfalls den überlieferten Wissenskorpus von Verfälschungen befreien wollte. In Brunfels’ botanischen Werken kommt dieses Nebeneinander zweier unterschiedlicher Quellenideale besonders anschaulich zum Ausdruck. Neben den erwähnten höchst realistischen Darstellungen der Pflanzen, die zudem weit überwiegend in der Straßburger Umgebung heimisch waren und von denen mehr als vierzig überhaupt das erste Mal beschrieben wurden, stehen im erklärenden Text langatmige Zitate und Paraphrasen vor allem aus den klassischen Werken von Dioskurides und Plinius und, im Hinblick auf die therapeutischen Qualitäten, von Galen.

Das »Onomastikon medicinae« verbindet mit seinem medizinischen, aber auch naturkundlichen Materialreichtum das Interesse an Mensch und Natur mit der Philologie, doch der Schwerpunkt im methodischen Ansatz liegt, der Natur des Werks entsprechend, eindeutig in der Begriffsklärung und der Wissenspräsentation auf der Grundlage einer hervorragenden Kenntnis der gelehrten Tradition. Wie selbstverständlich setzt Brunfels auch auf seiten des Lesers die Fähigkeit voraus, zumindest einzelne Worte in der griechischen Schrift richtig zu erschließen.

Mit seinem »Onomastikon« hat Brunfels das erste umfassende und vollständig überlieferte Wörterbuch der Medizin vorgelegt.3 Er steht damit am Anfang einer der erfolgreichsten medizinischen Literaturgattungen, die insbesondere mit den »Definitionum medicarum libri XXIIII« von Jean de Gorris (1564), dem »Dictionarium medicum« des Henri Estienne (1564) und dem »Lexicon medicum graeco-latinum« von Bartolommeo Castelli (1598) binnen weniger Jahrzehnte weitere Werke hervorbringen sollte, die teilweise bis ins 18. Jahrhundert immer wieder überarbeitet und neu aufgelegt wurden. Brunfels’ »Onomastikon medicinae« wurde im Zuge dieser Entwicklung von den jüngeren Konkurrenzwerken allmählich in den Hintergrund gedrängt, doch seine Stellung als Pionierwerk der abendländischen medizinischen Lexikographie bleibt davon selbstverständlich unberührt.

1 Vgl. den Beitrag von Jerry Stannard im Dictionary of scientific biography. Hrg. v. Charles Coulston Gillispie. Bd. 14. New York 1976, S. 535-538.

2 Neotericorum aliquot medicorum, in medicinam practicam in troductiones. Argentorati 1533, S. 3v.

3 Fielding Hudson Garrison und Leslie T. Morton: A medical bibliography: an annotated check list of texts illustrating the history of medicine. 3. Aufl. Aldershot 1970 führen als erstes gedrucktes medizinisches Wörterbuch die »Synonyma medicinae, seu clavis sanationis« des Simone Cordo (Mailand 1473; Erstausgabe Ferrara 147 1-2?), von dem jedoch kein vollständiges Exemplar überliefert ist. Ebenfalls vor dem Werk von Brunfels erschienen Morton zufolge der »Aggregator, sive de medicinis simplicibus« des Giacomo Dondi (um 1470) und die »Synonima und gerecht Uszlegung der Wörter, so man dan in der Artzny, allen Krütem, Wurtzlen, Blumen, Somen, Gesteinen, Safften unnd anderen Dingen zu schreiben ist« von Lorenz Fries (Straßburg 1519), deren Titel jedoch eine Beschränkung auf den Bereich der Arzneimittel vermuten lassen. Alle drei Werke waren mir bisher nicht zugänglich.