Die Pariser Medizin des frühen 19. Jahrhunderts
und das »Dictionaire des sciences médicales«

Michael Stolberg

Nicht nur in der Sphäre des Politischen und Gesellschaftlichen war die Wende zum 19. Jahrhundert eine Zeit des tiefgreifenden Umbruchs, eine Schwellenzeit am Übergang zu einer neuen Ära. Auch die Medizin wurde ausgehend von Frankreich von diesem grundlegendem Wandel erfaßt. Die Pariser medizinische Schule des frühen 19. Jahrhunderts erscheint aus heutiger Sicht als entscheidende Phase in der historischen Entwicklung jener Denkweisen, Konzepte und Verfahren, welche die moderne Medizin prägen, eine Medizin, die sich primär als empirisch-experimentelle Naturwissenschaft versteht. Die Popularisierung von L. Auenbruggers »inventum novum«, der fast schon wieder vergessenen Perkussion in die körperliche Untersuchung des Kranken durch J. N. Corvisart und die Erfindung des Stethoskops durch R. T. H. Laennec fallen in diese Zeit. Die wachsende Konzentration auf die klinische Beobachtung des Kranken, auf den Versuch, Krankheitssymptome mit lokalen pathologisch-anatomisch erkennbaren Veränderungen zu korrelieren und schließlich, vor allem in des Bewertung therapeutischer Verfahren, die Nutzung numerischer, statistischer Methoden schufen die Grundlagen entscheidender Wesenszüge der heutigen Medizin. Die große Zahl der Kranken an den Pariser Krankenhäusern bot hierfür optimale Voraussetzungen. Sie erlaubte systematische Beobachtungen an einer großen Zahl von Kranken und ermöglichte bei ungünstigem Krankheitsverlauf zudem häufig eine Autopsie. So gelangen tiefere Einblicke in Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Krankheitsprozesse. Man lernte, bisher ungeschiedene Krankheiten zu differenzieren - beispielsweise durch die genaue Analyse des betroffenen Gewebes am Herzen: Klappenerkrankungen, Endokarditis, Perikarditis und Herzmuskelveränderungen zu unterscheiden oder auch den bösartigen Krebs von anderen Gewebswucherungen zu trennen.1

Wie in jeder wissenschaftlichen Revolution vollzog sich der Bruch mit der Tradition nicht vollständig, und sei es, daß sich deren Gewicht vor allem in der Negation, in der Abgrenzung gegen sie äußerte. Wichtige Vertreter der neuen Pariser Medizin verstanden sich so durchaus als Anhänger hippokratischer Ideen. In gewandelter Form auch heute noch gültige, aber schon damals traditionelle vitalistische Vorstellungen von einer besonderen Eigengesetzlichkeit der Lebensvorgänge und die Überzeugung von einer inneren Naturheilkraft zählten weiterhin führende Ärzte zu ihren Anhängern, während eine andere gegen solche Auffassungen ankämpften. Ph. Pinel, heute vor allem als Psychiater bekannt, aber bis etwa 1820 der führende Kopf der Pariser Medizin, schloß mit seiner »Nosographie philosophique« von 1798 im Glauben an fest abgrenzbare, anhand des äußeren Erscheinungsbildes erkennbare Krankheitseinheiten an die großen botanischen Klassifikationsversuche des 18. Jahrhunderts an. Der Einfluß der »Ideologues« mit ihrem Vertrauen in die äußere Sinneswahrnehmung als maßgeblichem Wahrheitskriterium macht sich in dieser Medizin überhaupt an vielen Stellen bemerkbar. Zur selben Zeit gab aber der gleiche Pinel entscheidende Anregungen für die Suche nach lokalen, organischen krankheitsbedingten Veränderungen im Körperinneren.2

Gerade dem Bemühen, die Widersprüche in den geltenden Erklärungsmodellen in neuen, wo nötig eklektischen Synthesen aufzulösen, verdankt die Pariser Medizin des frühen 19. Jahrhunderts viel von ihrer fruchtbaren Dynamik. Dazu kam noch die neue politische Situation, das veränderte Verständnis der Stellung der Medizin in der Gesamtgesellschaft, die Frankreich bald zum europäischen Zentrum einer mitunter auch gesellschaftskritischen Wissenschaft von der öffentlichen Gesundheitspflege werden ließ.

In diese Zeit des medizinischen Umbruchs fällt das 1812 bis 1822 bei C. L. F. Panckoucke veröffentlichte »Dictionaire des sciences médicales«. Mit 60 Bänden übertraf es seine Vorgänger an Vollständigkeit und Ausführlichkeit um ein Vielfaches. Das gilt für die von D. Diderot, M. A. Eidous und F. V. Toussaint betreute erweiterte französische Ausgabe des »Medical Dictionary« von Robert James3 ebenso wie für das bis dahin ehrgeizigste Projekt einer medizinischen Enzyklopädie, die von Felix Vicq d'Azyr 1787 in Angriff genommene Reihe »Médecine« in der »Encyclopédie méthodique«, die erst 1830 mit dem 13. Band zum Abschluß kommen sollte.4 Die Mitarbeiter des »Dictionaire« zählten nahezu allesamt zur Elite der damaligen Medizin von Paris und das hieß damals zugleich: von Europa. Ärzte und Forscher wie Ph. Pinel, G. L. Bayle, J. B. Cayol, R. T. H. Laennec, M. A. Petit oder P. J. Roux waren maßgeblich an dem beschriebenen wissenschaftlichen Umbruch beteiligt. Manche, wie die Phrenologen F. J. Gall und J. Chr. Spurzheim, erregten nur vorübergehend großes Aufsehen mit neuen Theorien, andere erscheinen auch im Rückblick als maßgebliche Neuerer oder gar Begründer zunehmend eigenständiger medizinischer Disziplinen, etwa J. L. Alibert für die Dermatologie, J. E. D. Esquirol für die Psychiatrie und Ch. L. Cadet de Gassicourt, J. N. Hallé und C. C. H. Marc für Hygiene und öffentliche Gesundheitspflege.

Dem Dictionaire zur Seite gestellt und ebenfalls von C. L. F. Panckoucke in Paris veröffentlicht wurden zwei weitere eigenständige, hier nicht mitreproduzierte Werke. Die ersten sechs Bände der insgesamt siebenbändigen »Flore médicale« (1814–1820) handeln in alphabetischer Reihenfolge die medizinisch bedeutsamen Pflanzen ab; Richtlinie bei der Auswahl der Pflanzen war das »Dictionaire«, Der von F. P. Chaumeton, Chamberet und J. L. M. Poiret verfaßte Text ist mit einer großen Zahl handgemalter Abbildungen von P. J. F. Turpin und Mme E. Panckoucke illustriert. Der siebente und letzte, nicht alphabetisch angeordnete, aber mit weiteren Abbildungen Turpins versehene Band enthält in drei Teilbänden eine zweiteilige allgemeine Einführung in die Botanik von J. L. M. Poiret und einen »Essai d'une iconographie élémentaire et philosophique des végétaux« von P. J. F. Turpin.5

Die 1820–1825 herausgegebene siebenbändige »Biographie médicale«6 greift nur teilweise auf ältere Vorläufer zurück. Auf die Schilderung des jeweiligen Lebensweges berühmter Ärzte von der griechischen Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts folgen ausführliche Werkverzeichnisse. Diese streben nach einer vollständigen Aufführung sämtlicher Werke des betreffenden Arztes mit Angabe des vollen Titelwortlauts und der diversen Ausgaben und nennen insbesondere auch die mitunter sehr große Zahl der Dissertationen, die unter dem Vorsitz des Betreffenden verteidigt und oft auch von diesem selbst verfaßt wurden. Die »Biographie médicale« bildet damit heute noch ein wertvolles historisches Hilfsmittel.7

Nach dem Abschluß der ersten 60bändigen Ausgabe wurde im Verlag Panckoucke von 1818 bis 1829 in 35 Bänden ein fortlaufendes »Journal complémentaire du Dictionaire des sciences médicales« veröffentlicht, das dann 1830–1832 als »Journal complémentaire des sciences médicales« in 9 Bänden weitergeführt wurde. Bald begann aber auch die Vorbereitung eines verkürzten »Dictionaire abregé des sciences médicales« unter Mitarbeit vieler der Autoren der ersten, großen Ausgabe. Teilweise machte sich in den Beiträgen nun vermehrt der schon in der ersten Ausgabe vereinzelt spürbare, nun aber rapide wachsende Einfluß der Auffassungen von F J. V. Broussais geltend.8 Broussais, ein Schüler Pinels, führte den lokalistischen Ansatz der Pariser Krankenhausmedizin fort, betonte jedoch neben der lokalisierten Läsion selbst die aus dieser resultierende Störung der physiologischen Funktionen. Schließlich deutete er nahezu jede Krankheit, auch wenn sich autoptisch keine Veränderungen nachweisen ließen, als Folge einer lokalen Irritation vor allem des Magen-Darmtrakts, die ihrerseits auf »sympathetischen« Wege andere Organe negativ beeinflusse. Folgerichtig behandelte er nahezu alle Krankheiten nach dem »antiphlogistischen Heilplan« das hieß im wesentlichen durch Aderlaß und Blutegel. Broussais verlor seinen zwischenzeitlich überragenden Einfluß dann bald wieder an eine jüngere, stärker eklektisch und pathologisch-anatomisch ausgerichtete Forschergeneration.9

Die Resonanz des »Dictionaire« im In- und Ausland ist kaum zu überschätzen. Es gab nichts Vergleichbares. Das Werk wurde rasch zum festen, vielzitierten Bezugspunkt in der internationalen medizinischen Diskussion. Das Werk vermittelte eine umfassende Kenntnis der Konzepte und Erkenntnisse der Medizin in Paris, das damals in Europa weithin unangefochten als das maßgebliche Zentrum medizinischen Fortschritts angesehen wurde, und deren wichtigste Ergebnisse ansonsten vielfach nur in Monographien zugänglich waren. Etliche zentrale Beiträge beschränkten sich nicht auf die Darstellung des aktuellen Forschungsstands, sondern boten etwa im Falle Laennecs, auch neue, bisher unveröffentlichte Forschungsergebnisse.10

Dem Erfolg entsprechend fand das Werk bald Nachahmer. Manche der Mitarbeiter des »Dictionaire des sciences médicales« hatten bald schon auch Anteil an dem 21bändigen »Dictionnaire de médecine« das 1821 bis 1828 von J. Raige-Delorme betreut wurde. Weitere ähnliche Projekte und Übersetzungen in andere europäische Sprachen folgten. In einer Zeit des wachsenden Wissenschaftschauvinismus konnte Frankreich in der Produktion großer medizinischer Enzyklopädien über Jahrzehnte unangefochten in Europa die Spitze behaupten. Das »Dictionaire des sciences médicales« hat diese Entwicklung wesentlich bestimmt und war ihr maßgebliches Vorbild. Für den heutigen Leser ist es nicht nur wegen der sehr umfangreichen Angaben zur bibliographisch sonst oft schwer zugänglichen Literatur von hohem Wert. Es bietet vor allem einen umfassenden Überblick über das medizinische Wissen in dieser Schlüsselzeit der Medizingeschichte und gestattet aufgrund der Lexikonstruktur zugleich einen raschen Zugriff auf Detailinformationen. Ein »Museum voller Reichtümer« hat A. Déchambre es genannt, »in dem man sich über jegliche Frage unterrichten kann, und das insbesondere den großen Reiz hat, das vollständigste und getreueste Abbild der Medizin der Zeit zu bergen«.11

1 Den besten Überblick über die Pariser Medizin des frühen 19. Jahrhunderts bietet immer noch E. H. Ackerknecht: Medicine at the Paris hospital, 1794-1848. Baltimore 1967.

2 Vgl. M. Foucault: Die Geburt der Klinik, Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München 1973, besonders S. 137-185.

3 R. James: A medical dictionary. 3 Bde. London 1743-1745; D. Diderot, M.A. Eidous und F.V. Toussaint: Dictionnaire universel de médecine, de Chirurgie, d'anatomie, de chyrurgie ... 6 Bde. Paris 1746-48.

4 Encyelopédie méthodique, Médecine, 13 Bände, Paris - Liège 1787-1830.

5 Nach einer Zeitungsnotiz zu Beginn des Exemplars der Bayerischen Staatsbibliothek in München sah sich Kaiser Franz II. 1815 die ersten Bände dieses Werks bei einer Privataudienz für den Verleger Panckoucke persönlich an und bestellte ein Exemplar für seine Privatbibliothek.

6 Die Einleitung schrieb A. J. L. Jourdan.

7 Eine eigenständige Ausgabe als Mikrofiche-Edition ist im Rahmen dieser Reihe vorgesehen.

8 Darauf hat bereits A. Déchambre (Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales. Hrg. v. A. Déchambre, Bd. 1. Paris 1864, Einleitung des Herausgebers, S. XVI) hingewiesen. Broussais' wirkungsmächtiger »Examen de la doctrine médicale généralment adoptée« erschien erstmals 1816.

9 Einen guten Überblick über Wirken und Wirkungsgeschichte Broussais' bietet E. H. Ackerknecht: Broussais or a forgotten medical revolution. In: Bulletin of the history of medicine 27 (1953), S. 320-343.

10 Vgl. Ackerknecht, Medicine, S. 92 f.

11 A. Déchambre, a.a.O, S . XVI.