Ambroise Tardieu und sein »Dictionnaire d'hygiène publique«

Michael Stolberg

Im historischen Rückblick erscheinen die Jahrzehnte nach 1800 in der Entwicklung der medizinischen Forschung als ein Zeitalter des radikalen Umbruchs, als der Beginn jener modernen, naturwissenschaftlich orientierten Medizin, deren experimentell-kausalanalytisch geprägter Ansatz bis heute bestimmend geblieben ist. Statistische Verfahren rückten in den Mittelpunkt, systematisch begann man Krankheitssymptome am Lebenden und Organveränderungen an der Leiche zu korrelieren, unterschiedliche Krankheiten voneinander abzugrenzen, neue zu definieren; im Labor suchte man den Gesetzen der tierischen und menschlichen Physiologie und Pathophysiologie auf die Spur zu kommen. Die geradezu explosionsartige Vermehrung medizinischen Wissens, von der dieser Wandel begleitet war, hatte freilich jahrzehntelang nur sehr geringe Auswirkungen im Hinblick auf Verbesserungen in der Krankheitsbehandlung.

Nach heutigem Ermessen hatten die Ärzte in den allermeisten Fällen letztlich keinerlei wirksame Therapie an der Hand. Aderlaß beziehungsweise das Aufsetzen von Blutegeln sowie die Gabe von Brech- und Abführmitteln als die weiterhin zentralen Pfeiler der ärztliche Therapie konnten sich – aus heutiger Sicht – wohl nur aufgrund der häufigen Spontanheilungen gerade bei den damals vorherrschenden Infektionskrankheiten behaupten. Mit dem verstärkten Einsatz statistischer Methoden zur Therapiebewertung wuchs denn auch unter den zeitgenössischen Ärzten der Zweifel an diesen scheinbar altbewährten Methoden. Attraktive Alternativen konnten freilich die wenigsten Ärzte erkennen. Nur einzelne von ihnen wandten sich neuen Konzepten und Verfahren zu, wie der Homöopathie, der Rademarschen Erfahrungsheilkunde oder der Wasser- und Naturheilkunde.

In Anbetracht dieser desolaten Lage im Bereich der Behandlung am einzelnen Krankenbett konnte jene junge Disziplin, der das vorliegende »Dictionnaire« gewidmet ist, eine um so größere Anziehungskraft entfalten, die »Hygiene« als Wissenschaft von der öffentlichen Gesundheitspflege. Eine auf rationalen, empirisch fundierten Grundsätzen aufbauende öffentliche Gesundheitspflege, so wurden deren führende Vertreter nicht müde zu betonen, war letztlich das weitaus wirksamere Mittel, den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu heben, indem sie jene Krankheiten, denen die Arzte vielfach ohnmächtig gegenüberstanden, erst gar nicht entstehen ließ. Diese Überzeugung entspricht im übrigen durchaus den Ergebnissen der modernen historischen Epidemiologie und Demographie: der starke Rückgang der Sterblichkeit, der in den meisten europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen ist, läßt sich nicht sinnvoll auf eine Verbesserung der medizinischen Behandlungsverfahren zurückführen. Er wurde vielmehr entscheidend verursacht durch Maßnahmen zur Verbesserung der städtischen Infrastruktur, wie Kanalisation, Aufbau einer sauberen Trinkwasserversorgung etc., welche die Ausbreitung wichtiger Krankheitserreger wirksam unterbanden.

Das Bemühen um die vorbeugende Krankheitsbekämpfung war selbstverständlich schon seit der Antike ein wichtiger Teil ärztlicher Tätigkeit. Jahrhunderte lang setzte dieses Bemühen jedoch vor allem beim Individuum an, das zu einer geregelten Lebensweise, zu gesunder Ernährung und zur Vermeidung von Exzessen angeleitet wurde. Nur ganz allmählich verstärkte sich seit dem ausgehenden Mittelalter das Gewicht einer stärker kollektiv geprägten, das Individuum transzendierenden Sichtweise. Daran hatte zum einen die stetig wiederkehrende Bedrohung durch Seuchen einen wichtigen Anteil, insbesondere durch den »Schwarzen Tod«, dessen Eindringen städtische und territoriale Obrigkeiten durch Quarantäne und Sperrgürtel sowie durch örtliche Assanierungsmaßnahmen zu verhindern suchten, und zum anderen die wachsende Bedeutung der Städte als Ort des Zusammenlebens einer größeren Anzahl von Menschen auf engem Raum und den damit einhergehenden Problemen. Erst mit der Industrialisierung und den sie begleitenden Problemen der rapiden Verstädterung und des massenhaften Pauperismus wurde die vorbeugende Medizin jedoch tatsächlich zunehmend zu einer sozialen Wissenschaft, deren Mittel nicht mehr am Verhalten des einzelnen, sondern an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und deren Folgen für die Gesundheit größerer Bevölkerungsgruppen ansetzte.

Geistige, normative Veränderungen gingen dazu parallel. Hatten schon seit der frühen Neuzeit vor allem die kameralistischen Autoren vermehrt darauf hingewiesen, daß eine kluge Gesundheitspolitik durchaus im Interesse des Regenten und des Staatswesens lägen, indem sie die militärische Stärke und die Arbeitskraft sicherten, so trat im Zuge der Aufklärung die Auffassung hinzu, daß die Bürger darüber hinaus sogar ein eigenes Recht auf Gesundheit hätten und die Regierungen somit die Pflicht hätten, hierfür die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen.

Aus all diesem entstand in den europäischen Ländern, freilich in unterschiedlichem Maße und mit nationalen Schattierungen, eine neue Wissenschaft: die Wissenschaft von einer »medizinischen Polizei«, wie man vor allem im deutschsprachigen, kameralistisch geprägten Bereich sagte, oder von der »hygiène publique«, wie der in Frankreich bevorzugte Begriff lautete. Konzentrierte sich die »medizinische Polizei« tendenziell eher auf die Formulierung politischer Richtlinien und räumte der Gerichtsmedizin ein größeres Eigengewicht ein, so war die vor allem in Frankreich betriebene Wissenschaft von der »hygiène publique« ein Unternehmen, das sich erstmals in systematischer Weise um die Erforschung kollektiver Gesundheitsphänomene bemühte, mit Hilfe von eingehenden empirischen Untersuchungen und sehr bald auch in breitem Maße mit Hilfe von statistischen Untersuchungen, welche die Zusammenhänge zwischen dem Gesundheitszustand bestimmter Bevölkerungsgruppen und ihren Umwelt-, Ernährungs-, Lebens- und Arbeitsverhältnissen prüften.

Zusammenhänge zwischen Armut und Erkrankungshäufigkeit, die sozialen Ursachen der Prostitution, die gesundheitlichen Auswirkungen von gewerblichen Abgasen und ähnliche Themen waren Gegenstand dieser neuen Wissenschaft.

Frankreich übernahm auf diesem Gebiet rasch eine ziemlich unbestrittene Führungsrolle. Erstmals wurde hier eine forschende und beratende Tätigkeit in der öffentlichen Gesundheitspflege zu einer möglichen beruflichen Alternative zur Arbeit als Praktiker. Die Arbeiten von Villenn, Parent-Duchatelet und anderen stießen in ganz Europa auf beachtliche Resonanz. Mit den »Amales d’hygiène publique et de medicine légale« schufen die französischen Hygienisten über die Veröffentlichungen von Monographien hinaus Ende der 1820er Jahre ein einflußreiches eigenes Forum für ihre Forschungsergebnisse. Zuvor schon hatten sie sich Schlüsselpositionen als Berater der Regierung, bei der Formulierung neuer Gesetzesvorhaben und als Mitglieder der mächtigen städtischen Gesundheitsräte erobert, die zunächst in den großen Städten gegründet wurden und sich von dort allmählich auch in die kleineren Zentren aus breiteten.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die »hygiène publique« zu einer etablierten Wissenschaft geworden. Sie konnte auf eine große Zahl von Forschungsarbeiten in einem breiten Themenspektrum zurückblicken, in vielen Fragen war ein gewisser Konsens entstanden. Es war somit der Zeitpunkt gekommen, neben die vielen Einzelpublikationen umfassende Übersichtsarbeiten zu stellen. Gleichzeitig wurde es vermehrt zu einem Desiderat, Gesundheitsräten und städtischen Magistraten auch in den vielen kleineren Städten ein Nachschlagewerk an die Hand zu geben, das ihnen den raschen Zugriff auf das entsprechende Spezialwissen in diesem komplexen, unübersichtlichen Bereich eröffnete. Denn auch dort schufen wirtschaftliche und soziale Umwälzungen und das Anwachsen der Bevölkerung ganz neue Probleme, ohne daß man auf den Rat herausragender Hygienisten hätte hören können, auf deren Hilfe Städte wie Paris und Lyon unmittelbar zurückgreifen konnten.

Diesen beiden Bedürfnissen wurde erstmals in umfassender und gelungener Weise das vorliegende »Dictionnaire« von Ambroise Tardieu gerecht, einem herausragenden französischen Hygienisten der »zweiten Generation«. Es zeichnet sich insbesondere aus durch die gelungene Mischung in der Darstellung von wissenschaftlichem Basiswissen und jene konkreten, praktischen Handreichungen, wie sie die ärztlichen und nicht-ärztlichen Mitglieder der städtischen Gesundheitsräte, Politiker und Juristen und all jener Ärzte und Bürger benötigten, die sich mit Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege befaßten. Eingehende Erörterungen der gesundheitlichen Folgen bestimmter Giftstoffe in Luft und Wasser finden sich hier ebenso wie wörtliche Wiedergaben einschlägiger Gesetzestexte. Dem heutigen Leser eröffnet es damit einen umfassenden Einblick sowohl in die Vielfalt der Probleme, mit denen die zeitgenössische Gesundheitspflege zu kämpfen hatte, als auch in die damaligen Sichtweisen und bevorzugten Bewältigungsstrategien.

Tardieus Werk erschien später noch in einer erweiterten, vierbändigen Ausgabe. Wir haben hier für die Reproduktion dennoch die erste bevorzugt, da sie zeitlich einen ersten Abschluß in der Ausformulierung und Institutionalisierung der Wissenschaft von der öffentlichen Gesundheitspflege markiert.