Johann Nepomuk Rusts »Theoretisch-praktisches Handbuch der Chirurgie, mit Einschluß der syphilitischen und Augen-Krankheiten«

Michael Stolberg

Im Zuge jenes Prozesses, in dessen Verlauf sich im Mittelalter eine kleine ärztliche Elite als »doctores« , als privilegierte Vertreter einer gelehrten Medizin von den übrigen Heilkundigen zunehmend abgrenzte und rechtliche Privilegion erwarb, sank die Chirurgie zu einer zweitrangigen, als vergleichsweise minderwertig erachteten Disziplin herab. Insbesondere die praktische Ausübung der Chirurgie schien in einem grundlegenden Widerspruch zum vorherrschenden Ideal des Arztphilosophen zu stehen, dessen wissenschaftliche Fähigkeiten sich in erster Linie an seines Kenntnis der überlieferten Texte der medizinischen Tradition und seiner Fähigkeit zur argumentativen Auseinandersetzung mit diesen bemaßen. So überließ man die Chirurgie im medizinischen Alltag weitestgehend den Badern und Barbieren. Die Chirurgie wurde im wesentlichen ein Handwerk.

Wie stark der Widerspruch zur Selbstdarstellung der (inneren) Medizin als einer gelehrten, Theologie und Jurisprudenz gleichrangigen Disziplin empfunden werden mußte, wird noch deutlicher, wenn man sich die äußeren Bedingungen vor Augen hält, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die alltägliche Arbeit des Chirurgen bestimmten. Die Möglichkeiten zur Schmerzstillung waren stark begrenzt - im wesentlichen standen nur Alkohol und Opium zur Verfügung. Selbst größere Operationen mußten deshalb gewöhnlich binnen weniger Minuten vollzogen werden, was ein sorgfältiges, sauberes Arbeiten nur in engen Grenzen erlaubte und angesichts der Schmerzensschreie der festgebundenen oder von Helfern gehaltenen Patienten ein gutes Nervenkostüm erforderte. Die Blutstillung war nicht selten unvollkommen, die Infektion der Wunde eher die Regel als die Ausnahme und die Sterblichkeit bei größeren Eingriffen sehr hoch. Kein attraktives Aufgabengebiet also für einen Buchgelehrten und zudem auch ein erhebliches Risiko, daß die vielen schlechten Verläufe womöglich doch auch irgendwie dem Arzt zugeschrieben wurden.

Schon seit dem ausgehenden Mittelalter gab es freilich stets auch immer wieder einzelne Professoren und andere akademisch gebildete Ärzte, die sich dennoch in besonderem Maße gerade für die Chirurgie interessierten. Die Aufwertung der pathologischen Anatomie im 17. und 18. Jahrhundert mit ihrem stärker lokalistischen, auf die einzelnen Organe zielenden Ansatz förderte diese Entwicklung, ebenso auch die intensivierten Bemühungen um den Aufbau eines Militärsanitätswesens. So veröffentlichte Jean-Jacques Manget in Genf im Rahmen seiner Bibliothecae bereits 1721 eine umfangreiche, ausschließlich der Chirurgie gewidmete Enzyklopädie für den ärztlichen Gebrauch.1 Eigene höhere Lehranstalten für nicht-akademisch gebildete Chirurgen wurden im 18. Jahrhundert in verschiedenen Städten gegründet, zahlreiche neue Instrumente und manches neue Verfahren entwickelt. Zumal in einer Zeit, da die innere Medizin sich weitgehend auf Aderlaß, Brech- und Abführmittel verlassen mußte, die übrigens meist ebenfalls, gegebenenfalls auf ärztliche Verschreibung, durch die Handwerkschirurgen durchgeführt wurden, kaum über spezifische Heilmittel verfügte und sich dies auch langsam offener eingestand, gewann die Chirurgie allmählich an Attraktivität. Zunächst vereinzelt, dann in wachsender Zahl wurden Rufe laut, man solle die Chirurgie als gleichwertige medizinische Teildisziplin wieder mit der »eigentlichen«, der inneren Medizin vereinen. Es gab Widerstände, doch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es schließlich immer mehr zum Regelfall, daß akademisch gebildete Arzte sich sowohl in der inneren Medizin wie in der Chirurgie eingehende Kenntnisse und Fertigkeiten verschafften und sie auch praktisch anwandten, wenn auch die chirurgischen Fälle in einer gewöhnlichen Arztpraxis angesichts der eingeschränkten Indikationsstellung weiterhin nur einen kleinen Anteil hatten. Die Chirurgie wurde einschließlich ihrer praktischen Ausübung zum vollwertigen akademischen Lehrfach und zu einer ärztlichen Karriereoption, zumal seit den ausgehenden 1820er Jahren, als die Desillusionierung mit den hochfliegenden spekulativen Entwürfen der »romantischen«, naturphilosophisch-axiomatisch begründeten und vor allem im Bereich der inneren Krankheiten wirksamen Medizin allgemein wurde.

Der Bedeutungszuwachs der Chirurgie in Praxis und Lehre und der starke Anstieg in der Zahl der Ärzte insgesamt schuf zugleich einen expandierenden Markt für theoretisch und praktisch ausgerichtete chirurgische Werke und nicht zuletzt auch für entsprechende Handbücher und Enzyklopädien. Erstmals traten nun an die Stelle einzelner chirurgischer Bände im Rahmen größerer Werke umfangreiche, eigenständige Unternehmen. Im deutschsprachigen Raum sind hier neben dem hier reproduzierten Werk von Rust vor allem zu nennen das vierbändige, von Ernst Blasius herausgegebene »Handwörterbuch der gesammten Chirurgie und Augenheilkunde zum Gebrauch für angehende Ärzte und Wundärzte« (Berlin 1836–1838) und das sechsbändige »Handwörterbuch der gesammten Chirurgie und Augenheilkunde«, das von 1836 bis 1840 von Wilhelm Walther, Michael Jaeger und Justus Radius in Leipzig herausgegeben wurde. Rusts Werk war freilich nicht nur das bei weitem gründlichste und umfangreichste, es erwies sich auch von Anfang an als das erfolgreichste. Offenbar genügte bereits Rusts Name, um zahlreiche potentielle Käufer und Leser für das angekündigte Werk zu gewinnen: die erste Subskriptionsliste, zusammen mit dem ersten Band veröffentlicht, verzeichnete bereits 1654 Subskriptionen.

Tatsächlich war Johann Nepomuk Rust wohl der bekannteste und angesehenste Chirurg im zeitgenössischen Deutschland. Zugleich steht sein persönlicher Lebensweg geradezu paradigmatisch für den oben skizzierten Prozeß einer vollständigen Wiedereingliederung der Chirurgie in medizinische Wissenschaft und ärztliche Praxis. 1775 in Schlesien geboren, wandte er sich nach anfänglichem Interesse für den damals noch jungen Ingenieursberuf bald der Chirurgie zu. 1799 erwarb er in Prag den Grad eines Magisters der Geburtshilfe, 1800 den dort eingeführten Doktorgrad der Chirurgie. Er arbeitete für kurze Zeit in Wien, neben Paris damals Zentrum der europäischen Medizin, und dann als Professor im Lyceum in Olmütz (Olomouc), um schließlich 1803 eine ordentliche Professur für theoretische und praktische Chirurgie an der Universität Krakau anzutreten, wo er auch eine chirurgisch-klinische Anstalt gründete.

Anhaltende Anfeindungen von seiten seiner Kollegen, die seinen chirurgischen Doktorgrad für minderwertig erachteten und ihm die Behandlung innerer Erkrankungen nicht zugestehen wollten, bewegten ihn dazu, schließlich 1808 auch den medizinischen Doktorgrad zu erwerben. 1810 wurde er chirurgischer Chefarzt am Allgemeinen Krankenhaus in Wien, wechselte aber 1815 als Militärarzt nach Preußen und wurde dann 1816 Leiter der neuen chirurgisch-ophthalmologischen Klinik an der Charité und außerordentlicher Professor an der medizinisch-chirurgischen Militärakademie in Berlin. Es folgten weitere Karriereschritte – 1818 die außerordentliche und 1824 die ordentliche Professur an der Berliner Universität, 1821 die Ernennung zum Geheimen Obermedizinalrat im preußischen Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten und 1822 die Ernennung zum Generalstabsarzt der Armee und 1837 die Ernennung zum Direktor des chirurgischen und pharmazeutischen Studiums an der Universität. Vor allem dank seiner Funktion als Geheimer Obermedizinalrat wurde Rust zum mächtigsten Arzt im preußischen Medizinalwesen und stand von 1829 an als Präsident des von ihm geschaffenen Kuratoriums für Krankenhausangelegenheiten an der Spitze der Bemühungen um eine Reform des preußischen Krankenhauswesens.

Rust hat zahlreiche Werke veröffentlicht, das »malum Rusti«, die tuberkulöse Erkrankung der obersten beiden Halswirbel, wurde nach ihm benannt. Er war von 1816 an Herausgeber des »Magazins für die gesammte Heilkunde«, betreute von 1823 an auch das »Kritische Repertorium für die Heilkunde« und arbeitete in der Redaktion mehrerer weiterer Zeitschriften mit. Rust war zudem offenbar ein sehr erfolgreicher Lehrer – er hatte gegen Ende seines Lebens über 200 eingeschriebene Hörer, und nach mehr als dreißigjähriger Lehrtätigkeit dürfte denn auch so mancher seiner insgesamt 4.629 ehemaligen Schüler zu den Lesern und Käufern des Werks gezählt haben.2 Vier Jahre nach Vollendung des Handbuchs und wenige Monate, nachdem der preußische Kronprinz, dessen Leibarzt er seit 1834 gewesen war, als Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestiegen und ihn zum königlichen Leibarzt gemacht hatte, verstarb Rust 1840 im Alter von 65 Jahren.

Bereits in der Einleitung zum ersten Band unterstreicht Rust den wissenschaftlichen Anspruch seines Unternehmens – und damit, vor dem eingangs skizzierten geschichtlichen Hintergrund, das neue akademische Selbstbewußtsein der Chirurgie und ihrer führenden Vertreter. Mit Nachdruck weist er darauf hin, daß »das Werk kein Noth- und Hülfsbüchlein für den gewöhnlichen Wundarzt, sondern ein Handbuch für den Heilkünstler höherer Klasse, für den gelehrten Iatrochrirurgen seyn soll.« In der Tat führt der Begriff des »Handbuchs« ein wenig in die Irre. Schon allein seines Umfangs wegen war das Werk kaum geeignet, den Arzt bei seinen Krankenbesuchen zu begleiten und ihm gegebenenfalls ein rasches Nachschlagen zu erlauben. Die Beiträge, von einer stattlichen Anzahl von Mitarbeitern verfaßt, darunter auch Rust und einige seiner Schüler, entsprechen vielfach detaillierten und differenzierten Abhandlungen über den jeweiligen Gegenstand und erstrecken sich nicht selten über viele Seiten. Der heutige Medizinhistoriker und historisch interessierte Arzt wird die zahlreichen geschichtlichen und mitunter recht ausführlichen Rückblicke auf die Auffassungen und Praktiken früherer Jahrhunderte nützlich finden, die noch durch eine ganze Reihe von biographischen Einträgen zu älteren und zeitgenössischen Chirurgen und chirurgischen Autoren vervollständigt werden.

So verschaffen die Beiträge auch dem heutigen Leser noch einen umfassenden und in die historische Entwicklung eingebetteten Überblick über die Theorie und Praxis der chirurgischen Erkrankungen und Behandlungsverfahren vor 1850, bevor die Chirurgie sich aufmachte, dank Narkose und Asepsis nochmals ganz neue Räume zu erobern.

1 Jean Jacques Manget: Bibliotheca chirurgica, qua omnes morbi chirurgici a capite ad calcem recensentur, cum suis remediis et curationibus. 4 Bde. Genf 1721. Es handelt sich weitestgehend um eine Kompilation jüngerer und älterer Arbeiten anderer Autoren.

2 Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 30, S. 25-29; August Hirsch (Hrg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Arzte aller Zeiten und Völker. 3. Aufl. Bd. 4. München - Berlin 1962, S. 930-932; Österreichisches biographisches Lexikon 1815-1950. Bd. 9. Wien 1988, S. 563, mit einem ausführlichen, auch polnische Werke umfassenden Literaturverzeichnis; Rolf Winau: Medizin in Berlin. Berlin - New York 1987, S. 144-146; laut Winau erfolgte die Ernennung zum Geheimen Obermedizinalrat bereits 1819.