Die »Bibliothecae« des Jean-Jacques Manget (1652–1742)

Michael Stolberg

»Il compilait, compilait, compilait!« Unter diesen fiktiven, aber durchaus treffenden Leitsatz stellte ein Kritiker des 19. Jahrhunderts rückblickend das Lebenswerk des Genfer Arztes Jean-Jacques Manget.1 Tatsächlich eröffnen die »Bibliothecae« Mangets bereits von ihrem Umfang her eine ganz neue Dimension in der Geschichte der medizinischen Lexikographie. In 18 großformatigen und teilweise mehr als tausend Seiten umfassenden Bänden wurde hier dem Leser ein umfassender Überblick über das medizinische Wissen der Zeit vermittelt, unter Einschluß der »Hilfswissenschaften« Anatomie, (Al-) Chemie, Pharmazie und medizinische Bücherkunde.

Neu, und auch für die Geschichte der medizinischen Lexikographie in der Folgezeit einzigartig, ist zugleich die kompilatorische Anlage des Werks. Manget bemühte sich nicht, wie dies später bei Enzyklopädien dieses Umfangs üblich und notwendig war, um die Mitarbeit von Kollegen, sondern bezeichnete seine »Bibliothecae« stolz als sein eigenes Werk; lediglich für die »Bibliotheca anatomica« von 1685 firmiert Daniel Le Clerc als Mitverfasser.2 Um sein umfangreiches lexikographisches Unternehmen bewältigen zu können, entschloß sich Manget zu einem anderen Verfahren: seine Mitautoren waren fast alle bereits tot und die Beiträge, die er in seine »Bibliothecae« aufnahm, waren weitestgehend für andere Zwecke verfaßt worden, selbst wenn sie von lebenden Zeitgenossen stammten, die diese bloß zum Abdruck zur Verfügung stellten. Nur sehr begrenzt gelangte auch bisher unveröffentlichtes Material zum Abdruck, vereinzelt Manuskripte von Kollegen, und, aus der Feder Mangets, einleitende oder Textauszüge überbrückende Passagen sowie Beiträge, die er selbst zu manchen Gegenständen verfaßte. Die große Masse des Textes aber bilden oft recht ausgedehnte Ausschnitte und zuweilen sogar vollständige Abhandlungen anderer, insbesondere früherer Autoren, die Manget in geeigneter Weise zusammenstellte. Entscheidende logistische Grundlage für diese Kompilationen war die recht ausgedehnte Sammlung medizinischer Werke, an deren Aufbau sich Manget als erfolgreicher und entsprechend wohlhabender praktischer Arzt in Genf recht intensiv bemühte; allein der »Bibliotheca anatomica« lagen rund 80 verschiedene anatomische Traktate zu Grunde.

In der heutigen Situation müßte Mangets Vorgehen selbstverständlich als ziemlich absurd erscheinen, und Ähnliches hätte schon für das ausgehende 18. Jahrhundert gegolten: angesichts des immer stärker beschleunigten Zuwachses an medizinischen Erkenntnissen und Erfahrungen wäre eine derart verfaßte medizinische Enzyklopädie bereits bei ihrem Erscheinen hoffnungslos veraltet und unbrauchbar.

In der Zeit um 1700 aber hatte ein solches Werk durchaus auch seine wissenschaftliche Berechtigung. Medizinisches Wissen war damals noch weit überwiegend Buchwissen und stützte sich auf das Gewicht einer jahrhundertealten Tradition. Wenn auch allmählich an einzelnen Orten eine praktische, klinische Ausbildung das Medizinstudium zu ergänzen begann, so gründete ärztliches Handeln und der wissenschaftliche Anspruch der Medizin doch weiterhin vor allem in der eingehenden Kenntnis der medizinischen Literatur – daher auch die Bedeutung der medizinischen Bücherkunde.

Mangets eigener Lebensweg veranschaulicht dies sogar in besonders plastischer Weise, hatte er doch zunächst auf Wunsch seiner Eltern Theologie studiert, sich anschließend sein medizinisches Wissen ausschließlich im Selbststudium aus Büchern erworben und ohne ordentliches Studium auf der Grundlage dieses Selbststudiums 1678 in Valence die medizinische Doktorwürde erlangt.3 Lediglich Anatomie und Physiologie bildeten in Hinsicht auf diese geringe Innovationsgeschwindigkeit eine gewisse Ausnahme, denn hier hatte gerade das 17. Jahrhundert zahlreiche neue Entdeckungen gebracht. Folgerichtig führt Mangets und Le Clercs »Bibliotheca anatomica« hier fast aus- schließlich Werke der jüngeren und jüngsten Zeit an. Auf die anerkannte Brauchbarkeit und Nützlichkeit von Mangets »Bibliothecae« für den gelehrten Arzt des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts verweist im übrigen nicht zuletzt der offenbar beachtliche Verkaufserfolg, den die einzelnen Teile des Werkes trotz des großen Umfangs und des damit zwangsläufig einhergehenden hohen Preises erzielten. Die »Bibliotheca anatomica«, die »Bibliotheca medico-practica« und die »Bibliotheca pharmaceutico-medica« erschienen jeweils in zwei Auflagen oder Ausgaben.4 Von der »Bibliotheca anatomica« ist zudem eine englischsprachige gekürzte Fassung in drei Bänden aus dem Jahr 1711 überliefert und von der »Bibliotheca chemica curiosa« ein deutschsprachiger Auszug von C. Horlacher aus dem Jahr 1707. Nur bei den beiden letzten Werken, der »Bibliotheca chirurgica« und der »Bibliotheca scriptorum medicorum«, blieb es also bei einer einzigen Auflage.

Inwieweit Manget von vornherein plante, die gesamte Medizin im Rahmen einer – wie er später wörtlich formu-
lierte – »Encyclopaedia medica integra« zu behandeln5, ist rückblickend nicht mehr mit Sicherheit zu klären. Es fällt auf, daß die »Bibliotheca anatomica« von 1685 noch nicht der lexikatypischen alphabetischen Anordnung folgt, sondern vielmehr eher im Sinne eines anatomischen Lehrbuchs nach dem Vorbild der älteren anatomischen Literatur den menschlichen Körper von Kopf bis Fuß behandelt; und auch die »Bibliotheca chemica curiosa« von 1702 verzichtet auf eine Angleichung an die in den anderen Werken benutzte »forma Dictionarium«6, wofür allerdings ein alphabetischer Index entschädigt. Beide Werke bilden also insofern einen gewissen Fremdkörper im Gesamtkonzept dieses Archivs, wurden aber aus Gründen der Vollständigkeit und weil auch Manget sie als Teil seiner Gesamtenzyklopädie begriff und auf sie zurückverwies, mitreproduziert.

Für den historisch interessierten heutigen Leser und Benutzer erweisen sich Mangets Bibliothecae in mehrerlei Hinsicht als nützliches Hilfsmittel. Obschon viele Schriften, die hier von Manget zusammengestellt wurden, zumindest schon etwas älteren Datums waren, spiegeln sie doch in der Regel das autoritative medizinische Wissen um 1700, wenn auch mit gewissen Widersprüchen im Detail als Ausdruck eines wachsenden medizinischen Pluralismus. So bieten die Bände in ihrer Gesamtheit ein einmalig umfassendes und getreues Abbild der zeitgenössischen Medizin, und zwar dank zahlreicher Fallgeschichten und konkreter Handlungsanweisungen durchaus auch in praktischer Hinsicht.

Gleichzeitig findet der Leser in oft sehr ausführlichen Auszügen, wenn nicht gar vollständig abgedruckt, in einer verhältnismäßig handlichen Zusammenstellung und in klarer thematischer Anordnung zahlreiche Traktate der abendländischen medizinischen Literatur aus der Zeit vor 1700. Manche davon zählen heute, wie W. Harveys »Exercitatio de motu sanguinis«, zu den Klassikern der medizinischen Literatur und sind in diversen Ausgaben leicht erhältlich. Andere von Manget herangezogene Werke aber, von bekannten und weniger bekannten Autoren verfaßt, sind heute vielerorts, wenn überhaupt, nur unter großen Schwierigkeiten zugänglich. Gewiß wird zumindest der professionelle Historiker nach Möglichkeit stets das Original vorziehen oder Mangets Extrakte zumindest anhand des Originals kontrollieren wollen. Doch selbst ihm erleichtern Mangets Kompilationen auf jeden Fall den thematischen Zugriff auch auf seltenere Werke, erlauben eine erste und durchaus ins Detail gehende Orientierung über deren Inhalte und werden im Falle vieler weniger verbreiteter Werke die Suche nach geeigneten Quellen erheblich erleichtern.

Die vier Bände der »Bibliotheca seriptorum medicorum vetorum et recentiorum« schließlich erscheinen, wenn auch damals durchaus als praktisches Hilfsmittel für den wissenschaftlich gebildeten, tätigen Arzt konzipiert, nach heutigem Verständnis ohnehin von vornherein als historiographisches Instrument. Mit gut 4.000 Einträgen handelt es sich um die erste umfassende Bio-Bibliographie der führenden, insbesondere literarisch hervorgetretenen Ärzte der abendländischen

Medizingeschichte. Auch zahlreiche, heute kaum mehr vertraute Namen finden sich hier verzeichnet, und das Werk kann heute noch als wichtiger Fundbehelf bei der Identifizierung unbekannter Autoren, Werke und Auflagen dienen. Daß in diesem Pionierwerk, wie spätere Kritiker wiederholt anmahnten, so manche Eintragung noch lücken- oder fehlerhaft war, muß dabei freilich – darauf sei hier noch warnend hingewiesen – in Kauf genommen werden.

1 A. Dechambre (Hrg.) Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales. 2. Reihe, Bd. 4. Paris 1874, S. 505.

2 Le Clerc soll Manget allerdings auch bei den übrigen Werken zur Hand gegangen sein.

3 A. J. L. Jourdan: Dictionaire des sciences médicales. Biographie médicale. Bd. 6. Paris 1824, S. 173f.

4 Genf 1685 und 1699 (Bibliotheca anatomica), Genf 1695-98 und 1739 (Bibliotheca medico-practica); Genf 1703 und Köln 1703 (Bibliotheca pharmaceutico-medica).

5 Bibliotheca chirurgica, Bd. 1, Vorwort an den Leser.

6 Ebd.