Die »Definitionum medicarum libri XXIII«
des Humanisten und Hippokratikers Jean de Gorris

Michael Stolberg

»Ad fontes!« »Zurück zu den Quellen!«. Mit diesem Leitsatz könnte man die Entwicklung der europäischen Naturlehre und Medizin seit dem frühen Mittelalter bis in die Neuzeit hinein überschreiben. Die Wiederentdeckung und Aneignung der Konzepte und Erkenntnisse antiker Autoren wurde Jahrhunderte lang zu einem entscheidenden Motor wissenschaftlichen Wandels, bis sich das Schwergewicht vor allem im 16. und 17. Jahrhundert immer stärker auf das »Buch der Natur« als der bevorzugten Quelle der Erkenntnis verlagerte. Doch zuvor hatten mehrere Wissenschaftsrenaissancen Inhalte und Methoden der Naturlehre und der Medizin von Grund auf gewandelt.1

In die europäische Medizin drang das neue Bewußtsein von dem Reichtum der antiken Wissenschaft verstärkt seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ein, zunächst über Salerno, dann über Toledo und andere Zentren, wo in großem Umfang Übersetzungen der Werke arabischer Autoren angefertigt wurden, die ihrerseits einen ganz neuen Blick auf das differenzierte Wissensgebäude der antiken Medizin und Naturphilosophie eröffneten. Den gelehrten abendländischen Ärzten als Träger dieser Rezeptionsbewegung gelang es nicht zuletzt dank des neugewonnenen theoretischen Oberbaus, ihrer praktischen Kunst einen festen Platz im Wissenschaftskanon der neuen Universitäten zu sichern.

Im Zeitalter des Humanismus wurde die starke Verwurzelung der scholastischen Medizin in den Werken arabischer Autoren jedoch selbst zunehmend zum Stein des Anstoßes. Die islamische Hochkultur, deren intellektuellen Leistungen die europäischen Ärzte ihren Aufstieg maßgeblich verdankten, wurde zunehmend als »barbarisch« verachtet, die Verwendung arabischer Begriffe geriet zum Zeichen der Kultur. Die humanistischen Ärzte machten sich auf die systematische Suche nach den ursprünglichen, nicht durch die arabischen Vermittler »verdorbenen« Quellen. Sie forschten nach alten Handschriften verschollener medizinischer Werke und versuchten mit philologischer Akribie möglichst genau den ursprünglichen Wortlaut der überlieferten oder neu aufgefundenen Werke zu rekonstruieren. Soweit es sich um die Werke griechischer Autoren handelte, ging diese Arbeit vielfach einher mit der Übersetzung ins Lateinische, um in einer Zeit, in der nur eine Minderheit der Gelehrten Über ausreichende Griechischkenntnisse für eine eigenständige Lektüre verfügte, das Wissen einer breiteren wissenschaftlich interessierten oder nach praktischer Anleitung suchenden Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Einer der führenden Vertreter dieses medizinischen Humanismus im 16. Jahrhundert war Jean de Gorris. 1505 in Paris geboren, wurde er 1541 von der dortigen medizinischen Fakultät zum Doktor ernannt und stand ihr 1548 und 1549 als gewählter Dekan vor. Im Jahre 1570 wurde er, schon in fortgeschrittenem Alter, gemeinsam mit anderen Ärzten wegen seiner calvinistischen Überzeugungen aus der Fakultät ausgeschlossen. Diese widersetzte sich auch erfolgreich selbst dem Bestreben des Königs, die Betroffenen zu rehabilitieren. Er erlebte noch hautnah die Schrecken der Bartholomäusnacht mit und starb, wie es heißt aufgrund dieser Erlebnisse seelisch stark verändert, 1577 als 72jähriger in Paris.2

Berühmtheit erlangte Gorris vor allem durch seine »Definitionum medicarum libri XXIIII literis Graecis distincti«, Paris 1564. Er gab aber auch eine Reihe medizinischer Werke der griechischen Antike heraus und versah sie mit lateinischen Übersetzungen und/oder kommentierte sie. Darunter sind insbesondere die Bücher des alexandrinischen Arztes Nikander (2. Jhd. v. Chr.) über die Alexipharmaka und den Theriak (1549 und 1557) zu nennen, die den Arzneimittelschatz bereicherten, sowie eine Anzahl von Werken aus dem »Corpus hippocraticum«, darunter »De arte«, »De antiqua medicina«, »De medico« und das »lus iurandum«.3

Schon die Auswahl der Werke, denen sich Gorris zuwandte, kennzeichnet ihn als einen Vertreter jener Medizin, die seit dem 16. Jahrhundert gegenüber der lange vorherrschenden, zunächst auf der Grundlage der arabischen Werke in der Scholastik zunehmend ausdifferenzierten und systematisierten galenisch-aristotelischen Medizin immer mehr an Eigengewicht gewann: des Hippokratismus. Nicht mehr Avicenna, wie Generationen von Ärzten der vorangehenden Zeit, sondern Hippokrates war ihm wie seinen Mitstreitern der »omnium medicorum princeps«.4 Im frühen 19. Jahrhundert, als man erneut Hippokrates zum großen Vorbild erkor, sah man Gorris denn auch als einen Vertreter »jener philologischen hippokratischen Schule, die über die Bereinigung der Texte der antiken Bücher mächtig zur Renaissance der griechischen Medizin beitrug und dem Studium der Natur den Weg bereitete, indem sie die Modelle allen Geistern zugänglich machte, die uns die Männer, die sie am besten kannten, übermittelten.«5

Jean de Gorris' »Definitiones« verbanden wie viele vergleichbare spätere Werke zwei Funktionen. Zum einen vermittelte das Werk zwischen zwei Sprachen, dem nur wenigen Lesern vertrauten Griechisch und der allgemeinen Wissenschaftssprache Latein. Das war vor allem deshalb ein dringendes Anliegen geworden, weil die Rezeption der antiken griechischen Schriften auch nachhaltig auf den zeitgenössischen medizinischen Begriffsgebrauch zurückwirkte. Das Fehlen einer adäquaten lateinischen Entsprechung, gewisse sprachliche Vorlieben und zuweilen vielleicht auch ein wenig wissenschaftliche Angeberei ließen manchen zeitgenössischen Autor die neuen griechischen Begriffe, womöglich gar in griechischer Schrift, bevorzugen. So mußte der Student oder Arzt bei der Lektüre medizinischer Arbeiten zunehmend damit rechnen, auf griechische Fachbegriffe zu stoßen, die ihm nicht vertraut waren, ja die er womöglich nicht einmal lesen konnte. Ein analoges Bedürfnis nach einer Verständnishilfe im Umgang mit fremdsprachlichen Fachbegriffen war schon in der Rezeption arabischer Werke aufgetreten, denn nicht zuletzt die großen Schwierigkeiten bei der Übersetzung förderten die Beibehaltung einer beachtlichen Zahl arabischer Begriffe in den zeitgenössischen medizinischen Schriften. So findet sich eine Art Vorläufer eines solchen als Übersetzungshilfe konzipierten Lexikons schon in der Form eines ausführlichen arabisch-lateinischen Glossars in den mittelalterlichen Handschriften des »Canon medicinae« des Avicenna. Es geht vermutlich bereits auf die Zeit der ersten Übersetzung des »Canon« in Toledo Ende des 12. Jahrhunderts zurück.6

Über die Angabe bloßer begrifflicher Entsprechungen im Sinne einer Übersetzungshilfe hinaus ging es Gorris jedoch auch um eine inhaltliche Darstellung. Bei aller Kürze der Erklärungen findet er gerade bei den Schlüsselbegriffen von Physiologie und Pathologie immer wieder Gelegenheit, neben den vorherrschenden und von ihm gründlich referierten galenischen Auffassungen auch solche aus dem Corpus hippocraticum auszubreiten. Dagegen grenzt er sich scharf ab gegen die in seinen Augen vereinfachenden Lehren der Methodiker, die vor allem über die Schriften des Soranus im Mittelalter große Bedeutung hatten. Ihrer wenig differenzierten Krankheits- und Ursachenlehre stellt er die Medizin der Dogmatiker mit Hippokrates an der Spitze gegenüber. Sie berücksichtige weit adäquater die individuelle Natur, die Konstitution des Kranken, beziehe auch die vielfältigen Einflüsse mit ein, die von den Gestirnen, vom Klima, von der Nahrung und anderen Umweltfaktoren auf den Krankheitsverlauf einwirkten und somit bei der Wahl der Behandlung berücksichtigt werden müßte.7 Der Überzeugung von der wissenschaftlichen, inhaltlichen Bedeutung des Werks, die über die eines bloßen philologischen Hilfsmittels deutlich hinaus ging, gibt nicht zuletzt die Tatsache Ausdruck, daß Gorris Sohn eine überarbeitete Fassung der »Definitiones« in die posthume Ausgabe der »Opera« seines Vaters von 1622 aufnahm.

Die »Definitiones« erlebten nach 1564 bis weit ins 17. Jahrhundert hinein mehrere Neuauflagen.8 Das Werk wurde zu einem der bekanntesten medizinischen Lexika von Barock und Frühaufklärung. Es diente erklärtermaßen und mehr noch als das im gleichen Jahr erschienene »Dictionarium medicum vel expositiones vocum medicinalium« des Henri Estienne (153 1-1598) als wichtiges Vorbild für ähnlich einflußreiche Werke der Folgezeit, wie das »Lexicon medicum graecolatinum« des Bartholomaeus Castelli, das seit 1598 in zahlreichen Auflagen und späteren Überarbeitungen anderer Herausgeber erschien.9 So hatten Gorris »Definitiones« über Jahrhunderte maßgeblichen Anteil an der Geschichte des medizinischen Lexikons als eigenem Literaturtyp, sie wirkten mit bei der weiteren Ausformung der medizinischen Fachsprache und bilden heute ein wichtiges Hilfsmittel für das Verständnis zeitgenössischer Begriffe und Konzepte.

1 Neben der Zeit der »Renaissance« im herkömmlichen kulturgeschichtlichen Sinne hebt die neuere Geistesgeschichte weitere größere wissenschaftliche Renaissancen im karolingischen 9. Jahrhundert, sowie im ausgehenden 11. und im 12. Jahrhundert hervor.

2 Zur Biographie vgl. den Beitrag von R. Desgenettes in: Dictionaire des sciences médicales. Biographie médicale. 7 Bde. Paris 1820 bis 1825, Bd. 4, S. 485f.: Dictionnaire historique de la médecine ancienne et moderne. Hrg. von J.E. Dezeimeris,
Ch.-Pr. Ollivier und J. Raige-Delorme. 7 Bde. Paris 1828-1839, Bd. 2, S. 595f.; Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, Hrg. v. A. Hirsch, 3. Aufl. München - Berlin 1962, Bd. 2, S. 804.

3 Viele von Gorris’ Editionen, Übersetzungen und Kommentaren finden sich in den Opera, Paris 1622; weitere Literaturangaben finden sich jeweils am Schluß der unter Anm. 1 genannten Beiträge in den biographischen Lexika.

4 So titelt er beispielsweise »Hippocratis coi medicorum omnium principis Liber de genitur« (Opera, S. 77)

5 Dictionnaire historique, Bd. 2 (wie Anm. l), S. 595.

6 Vgl. etwa Cod. lat. 5353 und Cod. lat. 13017 der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Unter der Bezeichnung »Antiqua expositio Arabicorum nominum« findet es sich noch am Schluß der von A. Alpago bearbeiteten und von B. Rinio herausgegebenen, gedruckten Ausgabe »Avicennae medicorum Arabum principis, Liber Canonis, de medicinis cordialibus, et cantica«, Basel 1556 [Nachdruck Teheran 19761, begleitet von einem zweiten von Alpago verfaßten Glossar. Ausführliche Abschnitte zu medizinischen Begriffen finden sich neben den zu anderen Wissenschaftsgebieten selbstverständlich schon in den Etymologia des Isidor von Sevilla.

7 Vgl. etwa die Abhandlung der Begriffe »Physis«, »dogmatikoi« und »methodikoi«.

8 In der Literatur (vgl. Anm. 1) werden genannt weitere Ausgaben von Frankfurt 1578 und 1601, der erwähnte Abdruck in den Opera von 1622 und eine Ausgabe von 1661 (nur bei Hirsch). Die Ausgaben von 1601 und 1661 konnte ich nicht selbst einsehen. Die Angabe einer Erstausgabe von 1554 statt 1564 im Dictionnaire historique dürfte auf einem Druckfehler beruhen.

9 Beide Werke verweisen in den Vorworten ausdrücklich auf das Vorbild Gorraeus.