Enyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften

Michael Stolberg

Mit drastischen Worten kennzeichnete Johann Nepomuk von Ringseis in den einleitenden Worten zu seinem »System der Medicin« aus dem Jahre 1841 die wissenschaftliche Heilkunde seiner Zeit:
»Eine Anarchie gleich der jetzigen in der Medicin ist ohne Beispiel in der Geschichte, eine Anarchie in der Theorie, wie in der Praxis derselben; in der Praxis, weil in der Theorie; im völligen Aufgeben aller Theorie von einer, in den monströsesten Irrthümern der Pseudotheorie von der anderen Seite. Welche schreienden Kontraste der Praxis! Hier die Natur-Anbeter, alles Heil abgöttisch von Ihr erwartenden müßigen Zuschauer; dort die Natur-Verächter, alle Natur-Heilkraft läugnenden frechen Experimentierer. Diese das Heil erstrebend durch Reinigung aller Kloaken; Jene erztolerant gegen Alles, was Leib und Seele verunreint. Hier Allöopathen, dort Homöopathen; hier Hydrophoben, dort Hydromanen. Diese Anbeter des Warmen, jene Vergötterer des Kalten. Diese vergaben ohne Scheu Millionen; jene mit Furcht Milliontel.«l

Ein tiefreichendes Krisengefühl kommt hier zum Ausdruck, das viele von Ringseis' ärztlichen Zeitgenossen teilten. Während die naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer, allen voran Chemie und Physik, große Erfolge feierten, war an die Stelle der hochfliegenden Erwartungen, die viele »romantische Mediziner« zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die neue, naturphilosophische Medizin gesetzt hatten, breite Ernüchterung oder gar vehemente Ablehnung dieser Form der Heilkunde getreten. Was der »romantischen Medizin« des frühen 19. Jahrhunderts aus heutiger Sicht durchaus auch eine gewisse Anziehungskraft verleiht, also etwa das Bemühen, das Denken in philosophischen Gesamtzusammenhängen für die Medizin zu bewahren und praktisch fruchtbar zumachen, das Beharren auf der spezifischen Eigengesetzlichkeit des lebendigen Körpers, die beharrliche Frage nach metaphysischen Zusammenhängen und nicht zuletzt nach dem Sinn von Krankheit, all dies schien letztlich nur in ein chaotisches Nebeneinander unterschiedlichster Theorien und Praktiken zu münden, bis hin zu Homöopathie und Wasserheilkunde, die, zwar jeweils nur von einer kleinen ärztlichen Minderheit getragen, in Adel und gehobenem Bürgertum auf beachtliche Resonanz stießen. Doch ein rein empirisches Vorgehen, das Sammeln von Einzelbeobachtungen unter Verzicht auf ein umfassenderes Verständnis, war kaum befriedigender und ließ in beunruhigender Weise die Grenzen zu der als unwissenschaftlich gering geschätzten »Erfahrungsheilkunde« der irregulären volksmedizinischen »Pfuscher« verschwimmen.

Orientierungslosigkeit machte sich breit, Eklektizismus schien vielen Ärzten als einzig gangbarer Ausweg. Schon machte sich eine verstärkte Hinwendung zur systematischen Beobachtung unter kontrollierten Bedingungen und vor allem zur experimentellen Arbeit im Labor geltend, doch war dieser Ansatz für die große Mehrheit der Ärzte noch keineswegs als jene wegweisende neue Forschungsstrategie erkennbar, als welche er sich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts erweisen sollte, da er Theorie und Praxis der Medizin von Grund auf veränderte. Der mit diesem neuen Ansatz verbundene, weitgehende Verzicht auf die Überzeugung vom besonderen philosophischen Charakter der Medizin, die Abkehr von dem Glauben, die Vorgänge im Körper ließen sich unmöglich auf die Gesetze der anorganischen Welt reduzieren, setzte für viele Ärzte zunächst eine schwer überwindliche mentale Schwelle.2

So lassen sich die Jahre zwischen 1830 und 1850 in der deutschen Medizin als Jahre der Krise und des Umbruchs charakterisieren. Dies war eben jene Zeit, in der das hier in Reproduktion vorgelegte, schließlich auf 37 Bände angewachsene »Encyclopädische Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften« erschien. Als Herausgeber zeichneten gemeinsam und in alphabetischer Reihenfolge die Professoren an der Berliner medizinischen Fakultät. Man darf jedoch als eigentlichen »spiritus rector« Christoph Wilhelm Hufeland
(1762–1836) vermuten, einen der bekanntesten Ärzte im zeitgenössischen Deutschland, Herausgeber eines der bedeutendsten Organe der damaligen medizinischen Publizistik, des »Journal für practische Arzneykunde und Wundarzneykunst«, königlicher Leibarzt und Professor für spezielle Pathologie und Therapie in Berlin.3 Auch wenn es von einer einzigen Universität seinen Ausgang nahm, war das »Wörterbuch« weit mehr als ein Unterfangen von bloß lokaler Bedeutung. Die Berliner medizinische Fakultät war 1810 gegründet worden und war damit eine der jüngsten in ganz Deutschland, doch hatte sich Berlin schon zuvor mit der Charité, der Pépinière und dem früheren Collegium medico-chirurgicum längst als ein führendes Zentrum der deutschen Medizin etabliert. Die neue Berliner Fakultät zählte von Anfang an führende Vertreter ihres jeweiligen Fachs zu ihren Mitgliedern.4 So zeichneten 1828 neben Hufeland als weitere Herausgeber des ersten Bandes der Chirurg Carl Friedrich von Gräfe (1787–1840), der Botaniker, Naturgeschichtler und Leiter des Botanischen Gartens Heinrich Friedrich Link (1767–1851), der Anatom und Physiologe Carl Asmund Rudolphi (1771–1832) und der Geburtshelfer Adam Elias Siebold
(1775–1828) verantwortlich, allesamt unter den bekanntesten Ärzten und Universitätslehrern Deutschlands. Das blieb auch während der mehr als 20jährigen Publikationszeit so, in deren Verlauf nicht nur ab Band 10 (1834) der Verlag Veit & Co. an die Stelle des Verlags J. W. Boike trat, sondern auch daß das Herausgebergremium, den Personalveränderungen an der medizinischen Fakultät entsprechend, immer wieder neu ergänzt werden mußte.5 Unter den später hinzugekommenen Mitherausgebern sind so insbesondere zu nennen: Johannes Müller
(1801–1858), Nachfolger von Rudolphi und seinerseits Lehrer führender Physiologen der Folgezeit (Emil Du Bois-Reymond, Hermann von Helmholtz, Robert Remak und Ernst Brücke), der die verstärkte und systematische Suche nach der pathophysiologischen Naturgesetzlichkeit der Krankheitsentstehung propagierte und dessen Beiträge zum »Wörterbuch« vor allem Ergebnisse von Experimentalforschungen präsentierten, Johann Friedrich Dieffenbach (1792–1847), ein berühmter Chirurg, der unter anderem durch seine Arbeiten zur Hautverpflanzung und zur Transfusion bekannt wurde, der Geburtshelfer und Berliner Nachfolger von Siebold, Dietrich Wilhelm Heinrich Busch (1788–1858), und der als Augenarzt überaus erfolgreiche Johann Christian Jüngken (1793–1875).

Die Herausgeber verfaßten eine ganze Reihe von Beiträgen selbst und gewannen darüber hinaus für die übrigen Beiträge zahlreiche weitere Autoren, vorzugsweise aus der Berliner Ärzteschaft. Inhaltlich sind die Beiträge überwiegend durch sachlichen Stil und nüchterne, unpolemische Kritik geprägt. Das entsprach einer gewissen Berliner Tradition. Selbst in der Blütezeit von Brownianismus und naturphilosophischer Medizin hatte in Berlin eine eher skeptische, eklektische Haltung gegenüber den unterschiedlichen Strömungen die Vorherrschaft bewahrt, ein Haltung, wie sie besonders ausgeprägt durch Chr. W. Hufeland vertreten wurde. So finden im »Wörterbuch« etwa auch Strömungen wie die Homöopathie eine ausführliche Würdigung unter Heranziehung von befürwortender wie ablehnender Literatur.6 Aus medizinhistoriographischer Sicht, dies sei hier nur am Rande angemerkt, verdienen die Beiträge von Friedrich Carl Hecker (1795–1850), seit 1834 Professor für Medizingeschichte in Berlin, besondere Erwähnung.

Die Hoffnung des Verlags, hier ein »Nationalwerk deutscher Wissenschaft« vorlegen zu können7, war im Rückblick wohl doch ein wenig zu hoch gegriffen. Originelle wissenschaftliche Beiträge, wie sie das große Vorbild aller medizinischen Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts, das »Dictionaire des sciences médicales«, auszeichneten, wird man hier kaum finden. Das »Encyclopädische Wörterbuch« bietet im wesentlichen – und das macht es gerade auch für die heutige historische Arbeit so nützlich – solide recherchierten und übersichtlich dargebotenen zeitgenössischen Wissensstand und einen gründlichen und nicht durch allzu einseitige Parteilichkeit verzerrten Überblick über die Vielfalt der zeitgenössischen Theorien und Konzepte. Als erste eigenständige und groß angelegte deutschsprachige medizinische Enzyklopädie setzte das » Wörterbuch« gleichzeitig wichtige neue Akzente in einem Feld, das bis dahin weitgehend durch französische Publikationen beherrscht wurde. Es leitete eine Entwicklung ein, an deren Ende die überaus erfolgreiche und in mehreren Auflagen erschienene »Real-Enzyklopädie der gesammten Heilkunde« von Albert Eulenburg stand.

1 Nepomuk von Ringseis: System der Medicin. Ein Handbuch der allgemeinen Pathologie und Therapie. Regensburg 1841, S. 3.

2 Einen guten Überblick über die Entwicklung insbesondere der deutschen Medizin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geben Werner Leibbrand: Die spektakuläre Medizin der Romantik. Hamburg 1956; Nelly Touyopoulos: Andreas Röschlaub und die Romantische Medizin. Die philosophischen Grundlagen der modernen Medizin. Stuttgart - New York 1982; Johann Bleker: Die Naturhistorische Schule 1825 -1845. Ein Beitrag zur Geschichte der klinischen Medizin in Deutschland. (= Medizin in Geschichte und Kultur. Bd. 13) Stuttgart - New York 1981; sowie die Beiträge von Johanna Bleker, Dietrich von Engelhardt und Brigitte Lohff in Klassiker der Medizin. Bd. 2. Hrg v. D. von Engelhardt. München 1991, S. 81-134.

3 Eine längere Pause in der Auslieferung der weiteren Bände 1837 begründete man von Verlagsseite dementsprechend mit dem Tod Hufelands im August 1836.

4 Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Berliner Medizin und ihrer wesentlichen Einrichtungen von den Anfängen bis heute bietet Rolf Winau: Medizin in Berlin. Berlin - New York 1987.

5 Nur H. F. Link begleitete das Unternehmen von Anfang bis Ende.

6 Band 16 (1837), S. 663-707.

7 Verlagsvermerk zu Bd. 15 (1837).