Der »Nucleus totius medicinae« des Arthur Conrad Ernsting

Michael Stolberg

Nur wenige unter den zahllosen medizinischen Lexika und Enzyklopädien der abendländischen Medizingeschichte können ernsthaft Anspruch auf inhaltliche Originalität erheben. Nicht diese war in aller Regel das Anliegen ihrer Verfasser, sondern das Bemühen um eine möglichst vollständige Erklärung von Begriffen und/oder Inhalten nach dem Stand der zeitgenössischen Wissenschaft. Arthur Conrad Ernstings »Nucleus totius medicinae« macht hiervon keine Ausnahme. In Struktur und Anliegen nimmt das vorliegende Werk jedoch eine gewisse Sonderstellung in der Geschichte der abendländischen medizinischen Lexikographie ein. Setzten die älteren medizinischen Lexika eines Otto Brunfels, Jean de Gorris, Bartolommeo Castelli oder Steven Blankaart bei ihren Lesern ganz selbstverständlich die Kenntnis des Lateinischen als der allgemeinen Wissenschaftler- und Gelehrtensprache voraus und streuten gar zahlreiche Begriffe in griechischer Schrift ein, so ist der »Nucleus« in deutscher Sprache verfaßt. Er zielte damit auf ein Publikum, das des Lateinischen nicht oder nur begrenzt mächtig war. Für diese Hinwendung zur Volkssprache war vor allem das »Gazophylacium« des Johann Jacob Woyt maßgebliches Vorbild, der auf diese Weise einen weiteren, auch weniger gebildeten Leserkreis erreichen wollte und, wie die zahlreichen Auflagen seines Werks vermuten lassen, auch erreicht hat.1 Der Leserkreis, auf den Ernsting zielte, war jedoch noch wesentlich klarer definiert: zwar hatte das Werk den gesamten Umfang der Medizin zum Gegenstand, doch dienen sollte es in erster Linie den Bedürfnissen der Apotheker.

Dem entspricht die Verteilung der inhaltlichen Schwerpunkte. Den weitaus größten Umfang unter den fünf Teilen des »Nucleus« nimmt das »Lexicon & Dispensatorium pharmaceuticum« ein, das weit über eine bloße Erklärung der (lateinischen) Fachbegriffe hinausgeht und eher in der Art eines pharmazeutischen Handbuchs zahllose Arzneimittel vorstellt, praktische Anweisungen vermittelt und im Falle der zusammengesetzten Mittel wie Balsame, Latwerge, Elixiere und Pillen sogar die Rezepturen und Mengenangaben zur Herstellung aufführt. Den Plan zu diesem Vorhaben rechtfertigt Ernsting selbst in seinem Vorwort. Es sei zwar wahr, »daß es uns bey weitem an Büchern nicht fehlet, denn es sind fast alle Laden damit angefüllet, und dennoch werden noch täglich mehrere geschrieben.«Doch er habe immer wieder die Erfahrung machen müssen, daß Bürger, die ihre Söhne bei einem Apotheker in die Lehre gaben, nach einem geeigneten Buch fragten, das deren Lehre begleiten konnte, und daß man dann nicht recht wisse, was man ihnen empfehlen solle. Die vorhandenen Aufstellungen und Dispensatorien seien für diesen Zweck zu weitläufig und enthielten allzu viele unbrauchbare oder längst nicht mehr übliche Mittel. Diesem Mangel wollte er mit seinem »Lexicon & Dispensatorium pharmaceuticum abhelfen.

Die übrigen vier Teile des »Nucleus«, die Chemie, Anatomie, Medizin und Chirurgie gewidmet sind, hat Ernsting dagegen wesentlich knapper gehalten. Hier herrschen kurze Erklärungen der fremdsprachigen, überwiegend lateinischen Begriffe der medizinischen und chemischen Fachsprache vor, wie sie dem Apotheker in seiner alltäglichen Arbeit begegnen möchten, im Umgang mit den Ärzten oder auch im Gespräch mit Patienten, die vom Besuch beim Arzt oder Chirurgen berichteten. Diese Teile des Werks spiegelten damit zugleich den allmählich wachsenden Professionalisierungsanspruch des Standes der Apotheker auf deren langem Weg vom Gewürz- und Kräuterhändler zum akademisch gebildeten Naturwissenschaftler. Die berufliche Selbstdarstellung als den Ärzte einigermaßen ebenbürtige Gebildete konnte kaum Bestand haben, wenn die Apotheker den lateinischen Fachausdrücken der Ärzte ebenso ratlos begegneten wie der durchschnittliche Bürger.2

Ernsting war für diese selbstgestellte Aufgabe in hervorragender Weise prädestiniert. Um 1709 als Sohn eines jungen Apothekers in Sachsenhagen geboren, machte er zunächst eine Lehre in der väterlichen Apotheke und arbeitete anschließend zweieinhalb Jahre als Apothekengehilfe in Halberstadt. Dann aber ging er nach Helmstädt, studierte dort Medizin und wurde 1737 mit einer Dissertation über ein Antimonpräparat zum Dr. med. promoviert. Er verfügte somit gleichermaßen über die praktische Erfahrung des Apothekers und über die weitgehend theoretische Ausbildung des akademischen Arztes. Angesichts der praktischen Defizite der Ärzte empfahl er denn auch seinen eigenen Werdegang als Vorbild und meinte, es sei »zu wünschen, daß ein jedweder Medicus erst in die Apothecken sich versuchte einige Jahre«.3 Nach dem Studium ließ sich Ernsting als praktischer Arzt in Braunschweig nieder, später bemühte er sich erfolgreich um ein Apothekenprivileg in Hagenburg, wo er die eigentliche Arbeit offenbar von seinem jüngeren Bruder versehen ließ und selbst als Landphysikus der Ämter Hagenburg und Sachsenhagen tätig war.

Schon frühzeitig wandte er sich der wissenschaftlichen, literarischen Arbeit zu. 1741 erschien mit dem »Nucleus« sein erstes Hauptwerk. 1746 folgten die »Prima principia botanica« und 1762 eine »Historische und physikalische Beschreibung der Geschlechter der Pflanzen«. Daneben veröffentlichte er noch einige kleinere Schriften über das Steinhuder Meer und den Gesundbrunnen in Rodenberg (heute Bad Nenndorf), zu dessen Brunnenarzt er 1760 bestellt wurde. Die von ihm angekündigte »Concordantia botanicorum circa denomi nationem plantarum«, ein vollständiges botanisches Wörterbuch auf der Grundlage sämtlicher bekannter botanischer Schriften, ist dagegen nicht überliefert. Die Überarbeitung des »Nucleus totius medicinae«, der nach seinem Tod im Jahre 1768 posthum in zweiter Auflage erschien, hat er dagegen offenbar im wesentlichen noch selbst erledigt.4

Aus der Sicht der meisten heutigen Leser dürften die verschiedenen Teile des »Nucleus« deutlich unterschiedliche Funktionen erfüllen. Das umfangreiche »Lexicon & Dispensatorium pharmaceuticum« eröffnet dem Medizinhistoriker einen hervorragenden Zugang bei der Auseinandersetzung mit Fragen der Therapiegeschichte und insbesondere bei der Deutung zeitgenössischer ärztlicher Verordnungen.

Die eher als Wörterbücher konzipierten Teile 2 bis 5 bieten dagegen inhaltlich im Vergleich zu den bekannteren älteren medizinischen Lexika kaum eine Bereicherung. Sie verdienen, ähnlich wie im Falle des Woytschen »Gazophylacium«, das Interesse des Historikers vor allem im Hinblick auf die noch in den Anfängen befindliche Erforschung der vielfältigem Vermittlungsprozesse medizinischen Wissens zwischen der akademischen Medizin der Ärzte einerseits und der Laienmedizin breiterer bürgerlicher Kreise andererseits, jener medizinischer Rezeptions- und Assimilationsvorgänge also, in denen das nichtärztliche Heilpersonal und gerade auch die Apotheker, soweit wir bisher erkennen können, vielfach eine Schlüsselrolle spielten.

1 Johann Jacob Woyt: Gazophylacium medico-physicum oder Schatz-Kammer medicinisch- und natürlicher Dinge. Leipzig 1709. Ernsting nennt im Vorwort ausdrücklich vor allem Woyt als Vorbild, daneben noch das medizinische Lexikon des Bartolommeo Castelli in der Bearbeitung von Adrian Ravestein.

2 Professionalisierungsinteressen finden sich auch im erfolgreichen Einsatz Ernstings für die Sache der Apotheker, als es darum ging, ob die Apotheker die Preise für die Arzneimittel auf das Rezept schreiben durften oder die Apotheker - was letzteren Gelegenheit gab, zusätzlich zur Arzneitaxe auch die Kosten für Verpackung etc. in Rechnung zu stellen (Heinrich Munk: Arthur Ernsting Conrad. In: Niedersächsische Lebensbilder 7 (1971), S. 460ff.

3 Vorwort zu Bd. 1 des »Nucleus«.

4 Eine ausführliche Darstellung von Leben und Werken Ernstings bietet der oben zitierte Beitrag von H. Munk (s. Anm. 2).