Das »Lexicon medicum graeco-latinum« des Bartolommeo Castelli

Michael Stolberg

Es sollte eines der erfolgreichsten medizinischen Lexika aller Zeiten werden, das »Lexicon medicum graeco-latinum«, das der Arzt und Theologe Bartolommeo Castelli, Medizinprofessor in Messina, im Jahr 1598 veröffentlichte.1 Das Werk erfuhr bald mehrere Neuauflagen (Venedig 1607, 1626 und 1642)2 und wurde in der Folgezeit von anderen Autoren immer wieder überarbeitet und neu herausgegeben und zum Vorbild zahlreicher späterer medizinischer Lexika.3

Dieser große Erfolg mag auf den ersten Blick ein wenig überraschen, denn Castelli betrat keineswegs völliges Neuland. Schon 1534 hatte Otto Brunfels mit seinem »Onomastikon medicinae« ein umfangreiches Wörterbuch der medizinischen Fachsprache vorgelegt, das auf einer vorzüglichen Kenntnis des damals zugänglichen antiken medizinischen Schrifttums beruhte. Es folgten bald Henri Estienne mit seinem »Thesaurus vocabulorum medicinalium« von 1560 und seinem »Dictionarium medicum« von 1564, Jean de Gorris mit seinen »Definitionum medicarum libri XXIIII literis graecis distincti« von 1564 und Anuce Foes mit seiner »Oeconomia Hippocratis alphabeti serie distincta« von 1588, Werke, die von Castellis »Lexicon« keineswegs einfach verdrängt wurden, sondern neben ihm noch zwei Jahrhunderte später Beachtung fanden. Castelli selbst rühmte sich in seinem Vorwort vor allem dessen, daß er im Gegensatz zu Autoren wie Gorris die ursprüngliche Begriffsbedeutung bei Hippokrates und Galen aufgesucht habe; das hatte freilich schon Otto Brunfels mehr als ein halbes Jahrhundert vor ihm getan. Das entscheidende Novum und damit das eigentliche Erfolgsgeheimnis von Castellis Werk ist wohl vielmehr darin zu suchen, daß sich sein Verfasser erstmals in der Geschichte der medizinischen Lexikographie, oder doch zumindest wesentlich stärker als die Autoren vor ihm, nicht ausschließlich aufdie antiken Texte stützte, sondern die alte und die zeitgenössische medizinische Begrifflichkeit gleichermaßen behandelte. Das widersprach bis zu einem gewissen Grad den Idealen des philologischen Humanismus, erhöhte jedoch die praktische Nützlichkeit des Werks, das auf diese Weise die medizinische Fachsprache in ihrer Gesamtheit erschloß.4

Diesem Prinzip, neben dem historischen auch zeitgenössischen Begriffsgebrauch zu berücksichtigen, blieben die Bearbeiter und Herausgeber der Folgezeit treu. Teilweise räumten sie der zeitgenössischen Terminologie sogar noch vermehrten Raum ein.5 Nicht zuletzt, um dem ständigen Wandel der Begrifflichkeit im Zuge der Weiterentwicklung der medizinischen Wissenschaft Rechnung zu tragen, wurde der »Castelli« wie kaum ein anderes Werk in der Geschichte des medizinisches Lexikons über die zwei Jahrhunderte seiner Editionsgeschichte immer wieder grundlegend umgestaltet. Das galt im Vergleich zur Originalausgabe von 1598 schon für die Bearbeitungen von Emanuel Stupanus (Basel 1625 und 1628) und von Adrian Ravestein (Rotterdam 1644; weitere Ausgaben 1651, 1657, 1661, 1665, 1667, 1670), noch weit mehr aber für die von Jakobus Pancratius Bruno (Nürnberg 1682 und 1688; Leipzig 1713; Padua 1721; Genf 1746), die hier in der Fassung von 1682 anstelle der Originalversion zur Reproduktion ausgewählt wurde.6

Ihr Autor wurde 1629 in Altdorf geboren, studierte dort, in Jena und an außerdeutschen Universitäten, darunter auch Padua, Medizin und wurde 1653 in Altdorf zum Dr. med. promoviert. Nach einigen Jahren als Arzt in Nürnberg übernahm er 1662 den Lehrstuhl für praktische Medizin in Altdorf, den er bis zu seinem Tod im Jahr 1709 innehatte.7

Wie die meisten Verfasser medizinischer Lexika zählte Bruno nicht zu den ganz großen Wissenschaftler-
persönlichkeiten seiner Zeit. Einen Namen machte er sich, abgesehen von einigen kleineren medizinischen Abhandlungen und von diversen Streitschriften, vor allem durch das vorliegende Werk. Nach Brunos eigener Darstellung trat um das Jahr 1676 der Verleger Joh. Dan. Tauber mit der Aufforderung an ihn heran, eine neue, verbesserte Ausgabe von Castellis »Lexicon« anzufertigen. Er nahm das Angebot an, um seine Bereitschaft dann, wie er selbst einleitend berichtet, alsbald heftig zu bereuen, als er sich angesichts zahlreicher Fehler und Lücken iiber den nötigen hohen Arbeitsaufwand klar wurde, Er beendete sein Vorhaben nur dank Taubers Beharrlichkeit nach sechsjähriger Arbeit. Bruno Pieß keinen Zweifel daran, daß »die Arbeit des Castellus den kleinsten Teil des ganzen Werks ausmachte.« Damit der Leser sich davon selbst ein Bild machen konnte, verwies er nicht nur auf den gewachsenen Umfang des Werks, sondern kennzeichnete auch die Beiträge der ursprünglichen Version mit einem Sternchen. Trotz des hohen eigenen Arbeitsanteils wählte Bruno in der hier vorliegenden Ausgabe aber noch den Titel »Castellus renovatus«; die Ausgabe von 1688 erschien dagegen dann unter dem veränderten Titel »Amaltheum castello brunonianum«.

Zahllose griechische, lateinische, arabische und fremdländische Begriffe aus dem gesamten Bereich der Medizin, so Bruno, habe er dem Werk hinzugefügt. Nur auf botanische Begriffe habe er mit Rücksicht auf die bereits vorhandenen ausführlichen Herbarien verzichtet. Tatsächlich hat Bruno teilweise sogar Begriffe aus dem Bereich der Naturgeschichte, der Alchemie und anderer Grenzgebiete der zeitgenössischen Medizin mit einbezogen und ein hohes Maß an Vollständigkeit erreicht.

Medizingeschichtlich fallt Brunos Veröffentlichung in eine Zeit, in der die auf die Allgemeinverbindlichkeit der Humoral- und Qualitätenpathologie gegründete jahrhundertealte Einheit der abendländischen Medizin endgültig zerbrochen war. Unterschiedliche medizinische Schulen standen einander gegenüber und feindeten sich gegenseitig teilweise heftig an. Neben jenen Ärzten, die im wesentlichen der alten Säftemedizin treu blieben, waren dies vor allem die Anhänger der neueren, cartesianisch beeinflußten mechanistischen Auffassungen vom menschlichen Körper und seinen Krankheiten und die häufig durch neoplatonische Konzepte geprägten Vertreter chemiatrischer Auffassungen, die sich vor allem auf die paracelsistischen Schriften stützten und mit ihrer Lehre von besonderen, nicht mechanistisch erklärlichen Lebenskräften die bedeutendste Gegenposition zur allmählichen Vorherrschaft des mechanistischen Denkens boten. Vor allem neoplatonisches und chemiatrisches Begriffsverständnis fand bei Bruno besondere Berücksichtigung. Zusätzlich zu den Werken der antiken Autoritäten Hippokrates, Galen, Aristoteles und Plinius nennt er dementsprechend die Werke von Autoren wie Libavius und F. Sylivius als maßgebliche Quellen. Ausdrücklich verweist er zudem auf die chemiatrischen Lexika von Martin Ruland, Gerhard Dorn und anderen, die er für sein Werk herangezogen habe.8

In dem Spektrum, das sich in der Geschichte der medizinischen Lexikographie zwischen der Konzentration auf Begriffserklärung einerseits und inhaltlicher Darstellung von Sachverhalten anderseits erstreckt, ist Brunos Werk im Vergleich zu den späteren enzyklopädischen Werken noch deutlich auf der Seite der Wörterbücher angesiedelt. Ausdrücklich benennt er die Notwendigkeit, daß »die Namen der einzelnen Dinge deutlich erklärt werden, daß ihr zweideutiger Sinn entdeckt und mit Hilfe würdiger Beispiele und echter Autoritäten bestätigt werde.«

In diesem Sinne erweist sich der »Castellus renovatus« auch für den heutigen Leser als ein nützliches Hilfsmittel zur Klärung der zuweilen deutlich von einander abweichenden Möglichkeiten zeitgenössischen Begriffsverständnisses in einer Epoche, in der die alte Eindeutigkeit der Begriffe aufgrund des Nebeneinanders heterogener medizinischer Theorien allmählich verloren zu gehen drohte.

1 Zur Biographie vgl. August Hirsch (Hrg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. 3. Aufl. Photomechanischer Nachdruck München - Berlin 1962, Bd. 1, S. 852.

2 Angaben nach Ludwig Choulant: Handbuch der Bücherkunde für die ältere Medicin. 2. Aufl. Leipzig 1841 (photomech. Nachdruck Graz 1956), S. 425.

3 Deren Verfasser versäumten es selten, ausdrücklich das Vorbild von Castellis Werk (oft neben den älteren von Jean Gorris aus dem Jahr 1564) zu würdigen; vgl. beispielsweise Steven Blankaart in der Einleitung zu seinem «Lexicon novum medicum graeco-latinum» (Leyden 1690).

4 Vgl. die Einleitung Amedée Dechambres zu dem von ihm herausgegebenen monumentalen Dictionnaire enyclopédique des sciences médicales. Bd. l. Paris 1864, S. I-XLVIII, hier S. XLII; Choulant a.a.O.

5 Im Falle von Adrian Ravestein ging dies allerdings einher mit einer betonten Abgrenzung gegen die Neologismen der paracelsistischen Medizin.

6 Veröffentlichungsdaten nach eigenen Recherchen sowie nach A. Dechambre a.a.O., S. XLII und nach Choulant a.a.O., S. 425f. Choulant nennt noch eine weitere, von J. Rhode überarbeitete Ausgabe (Padua 1699 und 1713), eine padovanische und eine neapolitanische Ausgabe von 1755 und 1761 und eine letzte, von H. Fiorati und anderen überarbeitete Ausgabe, die 1792 in Padua erschien.

7 Vgl. August Hirsch (Hg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. 3. Aufl. Photomechanischer Nachdruck München - Berlin 1962, Bd. 1, S. 739.

8 Vorworte zu den Ausgaben von 1682 und 1688.