Der »Dictionnaire encyclopédique des sciences medicales« von Amedée Dechambre

Michael Stolberg

Wollte man die Geschichte der medizinischen Lexikographie unter dem Gesichtspunkt von Fortschritt und Rückschritt, von Weiterentwicklung und Stagnation betrachten, so gäbe es gute Gründe, das »Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales« als den Gipfelpunkt und zugleich Abschluß eines jahrhundertelangen Entfaltungsprozesses zu sehen. Dieser Prozeß begann im 16. Jahrhundert mit der Veröffentlichung verschiedener medizinischer Wörterbücher durch humanistische, philologisch gebildete Ärzte, dem »Onomastikon medicinae« eines Otto Brunfels (1534) etwa, den »Definitionum medicarum libri XXIIII« eines Jean de Gorris (1564), dem »Lexicon medicum graeco-latinum« eines Bartolommeo Castelli (1598) und einigen ähnlichen Werken, die teilweise bis ins 18. Jahrhundert immer wieder neu überarbeitet und herausgegeben wurden.

Von da an setzte eine stetige literarische Produktion derartiger Lexika ein, in manchen Fällen dann allmählich auch an einen breiteren, weniger gebildeten Leserkreis gerichtet, wie das »Gazophylacium medico-physicum« des Johann Jakob Woyt (1709) oder der vorwiegend für Apotheker geschriebene »Nucleus totius medicinae« des Arthur Conrad Ernsting (1741). Volkssprachliche Werke begannen allmählich die Vorherrschaft des Lateinischen zu verdrängen, und neben der bloßen Erklärung unbekannter Begriffe trat zunehmend das Bemühen um eine mehr oder weniger ausführliche inhaltliche Darlegung von medizinischen Sachverhalten. Beispiele dafür sind Robert James’ »Medicinal dictionary«(1743–1745) und mehr noch, im Gefolge der berühmten »Enyclopédie« von Diderot und d’Alembert, die großen französischen Werke, die von Vicq d’Azyr konzipierte »Enyclopédie méthodique« (1787–1830) oder der »Dictionaire des sciences médicales« (1812–1822) mit Beiträgen von Ph. Pinel, G. L. Bayle, R. T. H. Laennec und vielen anderen führenden Vertretern der damaligen Pariser Krankenhausmedizin.

Der Herausgeber des »Dictionnaire encyclopédique«, Amedée Dechambre, war sich dieser hier nur grob skizzierten jahrhundertealten Tradition sehr bewußt. Ausführlicher als jeder Verfasser oder Herausgeber eines medizinischen Lexikons oder einer medizinischen Enzyklopädie vor ihm, führte er seinen Lesern diese Tradition und die zahlreichen Werke, die sie hervorgebracht hatte, einleitend vor Augen.

Doch zugleich sprengte sein Werk schon in seinem Umfang alle bisherigen Maßstäbe. Ähnlich wie der eben erwähnte »Dictionaire des sciences médicales« in seinen immerhin schon 60 Bänden den revolutionären Umbruch in der zeitgenössischen Medizin dokumentierte, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit europaweiter Ausstrahlung von Paris seinen Ausgang nahm, so sollte der »Dictionnaire encyclopédique« nach der ausdrücklichen Zielsetzung Dechambres dem tiefgreifenden Wandel und der geradezu exponentiellen Ausweitung empirischer und experimenteller Erkenntnisse in der zeitgenössischen Medizin auf ihrem Weg zur positiven Naturwissenschaft Rechnung tragen. Das Werk sollte seinen Lesern das medizinische Wissen der Zeit auf aktuellstem Stand und in seinem Gesamtzusammenhang zugänglich machen. Und dabei galt es nicht zuletzt auch dem Wandel der medizinischen Begrifflichkeit gerecht werden, den die neuen Erkenntnisse notwendig mit sich brachten, denn mit »dem Anwachsen der Fakten [geht einher] das Anwachsen der Begriffe; mit der Revolution der Dinge, die Revolution der Wörter«. Bei seiner Vollendung hatte das Werk einen Umfang von hundert Bänden in fünf Reihen erreicht und dürfte damit die umfangreichste medizinische Enzyklopädie aller Zeiten sein.1

Der Herausgeber, Amedée Dechambre, konnte das Werk bis auf die letzten Bände selbst zum Abschluß bringen, obwohl die Veröffentlichung immerhin rund 25 Jahre in Anspruch nahm. Erst 1885, ein Jahr vor Dechambres Tod, trat sein Mitredakteur in der »Gazette hebdomadaire« und späterer Biograph Léon Lerebouillet an seine Stelle.2

Wie so mancher andere Verfasser oder Herausgeber medizinischer Lexika und Enzyklopädien hatte sich Dechambre als Arzt und Wissenschaftler zwar einen guten Ruf erworben, zählte aber auch nach zeitgenössischem Urteil nicht zu den ganz herausragenden Vertretern seiner Wissenschaft, wenn er auch gegen Ende seines Lebens zum Mitglied der »Académie de médecine« und zum »Médecin du conseil d’état« ernannt wurde. 1812 in Sens geboren, nahm er 1829 in Paris ein Medizinstudium auf, das er erst 17 Jahre später in Straßburg mit einer Promotionsarbeit über die Herzmuskelhypertrophie abschließen sollte. Als praktischer Arzt arbeitete er kaum, sondern wandte sich vielmehr frühzeitig der medizinischen Publizistik zu. Er trat 1838 in die Redaktion der renommierten »Gazette médicale« ein und gründete mit Auguste Mercier den »Examinateur médical« den er von 1841 bis 1843 auch leitete. 1853 gründete er erneut eine eigene medizische Zeitschrift, die »Gazette hebdomadaire de médecine et de chirurgie«, die zu einem wichtigen Organ einer innovativen jüngeren Ärztegeneration wurde und deren Redakteur er bis zu seinem Tod blieb. In diese Zeit fällt der Beginn seiner Herausgeberschaft des »Dictionnaire encyclopédique«, in dem er auch selbst als Autor für einige Beiträge verantwortlich zeichnete. Zusammen mit Léon Lerebouillet und Mathias Duval gab er außerdem noch das kleinere »Dictionnaire usuel de médecine« heraus.3

Praktisch zu verwirklichen war ein so umfangreiches und ehrgeiziges Projekt wie der »Dictionnaire encyclopédique«, das auch die Grundlagenwissenschaften und selbst die Medizingeschichte mit einbeziehen sollte, nur durch die Zusammenarbeit zahlreicher französischer Wissenschaftler. Es waren weit über 200, die jeweils Beiträge zu Schlagworten aus ihren individuellen Interessengebieten beisteuerten, darunter Ch.-E. Brown-Séquard, L. Pasteur und weitere führende Köpfe nicht nur der französischen, sondern der gesamten zeitgenössischen europäischen Medizin.

Vor dem Hintergrund der dynamischen Wissenschaftsentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereitete, anders als in früheren Epochen, freilich schon eine rund 25jährige Veröffentlichungsdauer erhebliche Schwierigkeiten. Sie hatte unausweichlich zur Folge, daß der ursprüngliche Plan des Werks ad hoc ergänzt werden mußte, um mit den neuen Entwicklungen etwa im Bereich der Histologie und Bakteriologie Schritt halten zu können. Und unvermeidbar war, daß zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der letzten Bände manche Beiträge in den früher erschienenen Bänden ein Wissen präsentierten, das in Teilbereichen schon wieder als veraltet gelten mußte. Wohl nicht zuletzt dank der weitgehenden personellen Kontinuität an der Spitze der Redaktion gelang es dennoch, zu einem insgesamt erstaunlich homogenen Werk zu gelangen, das unter zeitgenössischen Ärzten weithin Anerkennung fand. Wenn es in Deutschland insgesamt doch bei weitem nicht auf die gleiche Resonanz stieß wie in Frankreich, so wird man das nicht auf Mängel des Werks, sondern in erster Linie auf mangelnde Sprachkenntnisse und einen rasch zunehmenden Wissenschaftschauvinismus zurückführen müssen.4 Für die heutige historische Erforschung der Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der »Dictionnaire encyclopédique« vor allem ein nützliches Hilfsmittel bei der Suche nach einem raschen Zugang zu den zeitgenössischen Vorstellungen und Erkenntnissen insbesondere auch über speziellere oder abgelegenere Teilbereiche,5 und die begleitenden Literaturangaben erlauben es, rasch weiter in die zeitgenössische Diskussion vorzudringen.

1 Einleitung, S. XXXIV.

2 Die Rolle der übrigen Mitarbeiter in der Redaktion des «Dictionnaire encyclopédique» wäre noch näher zu untersuchen.

3 Zur Biographie Dechambres vgl. August Hirsch (Hrg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. 3. Aufl. Photomechanischer Nachdruck München-Berlin 1962, Bd. 4, S. 200; Dictionnaire de biographie française.
Hrg. v. Roman d’Amat. Bd. 10. Paris 1962, Spalte 478.

4 Das maßgebliche Werk der deutschsprachigen medizinischen Lexikographie wurde Ende des 19. Jahrhunderts die «Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde», das unter der Leitung von Albert Eulenburg erstmals 1880 bis 1883 in 15 Bänden bei Urban & Schwarzenberg erschien; 1885 bis 1890, 1894 bis 1901 und 1907-14 folgten drei weitere, teilweise anschließend noch mit zusätzlichen Ergänzungsbänden erweiterte Auflagen.

5 Vgl. etwa die Untersuchung von Erich Geiser: Zahnheilkunde anhand von Dechambres «Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales» (1864-1889). Diss. med. dent. Zürich 1972.